Dem Tod ins Auge sehen

Wo Licht ist, ist auch Schatten. Die Düsseldorfer Augenärztin Susanne Frese ließ sich zur Sterbe- und Trauerbegleiterin ausbilden und kümmert sich seitdem ehrenamtlich um die letzten „Augenblicke“. Die Düsseldorfer Künstlerin Elisabeth Brockmann kam mit ihr ins Gespräch über Anfang und Ende, über Leben und Tod. Das Gespräch hat sie für das ZOO:M Magazin protokolliert.

Elisabeth Brockmann: Warum wolltest Du neben Deinem Heilberuf noch Menschen auf ihrem letzten Weg begleiten?  

Susanne Frese: Ich liebe meinen Beruf, gar keine Frage. Aber nach 30 Jahren als Augenärztin war es mir einfach zu wenig immer dieselbe Frage zu stellen: „Sehen Sie so besser oder sehen Sie so besser?“ Anders als in meinem Beruf bin ich als Sterbebegleiterin in jedem einzelnen Fall mit etwas Neuem konfrontiert. Ich muss improvisieren und mich auf immer andere Situationen einstellen.

E.B.: Ein Beispiel?

S.F.: Ich habe auf der Palliativstation eine Patientin besucht, die im Rollstuhl saß und sich sehnlichst wünschte, ihr Enkelkind noch zu sehen, das bald zur Welt kommen sollte. Als ich sie in der nächsten Woche wieder besuchte, lag die Patientin im Sterben und ihre Tochter lag mit ihrem dicken Bauch daneben, Händchen haltend. Da habe ich mich natürlich gefragt: Was mache ich jetzt?

Die Lösung war, dass wir uns einfach über das ungeborene Kind unterhalten haben, über rosa und blaue Jäckchen und übers Zöpfchen flechten. Wir haben also über etwas ganz anderes geredet und am Ende haben wir sogar zusammen gelacht.

E.B.: Ein großartiges Bild: die schwangere
Tochter mit kugelrundem Bauch neben ihrer sterbenden Mutter. Dein „Kunstgriff“ bestand in dieser Situation wohl darin, die Anspannung des nahenden Todes aufzulösen. Sind es immer
Menschen ohne Angehörige, die Du besuchst?

S.F.: Nein überhaupt nicht. Das ist sogar die Ausnahme. Oft sind die Angehörigen heilfroh, wenn ich komme, weil sie dann für einen kurzen Augenblick aufatmen können und nicht immer um dasselbe Thema kreisen müssen. Sie können sich auf jemand anderen fokussieren, in diesem Fall also auf mich, und dadurch löst sich die Anspannung.

E.B.: Wenn ich Dich richtig verstehe, besteht die Wohltat Deines Besuchs bei den Sterbenden vor allem darin, dass sie für einen Moment den Tod vergessen können.

S.F.: Nicht nur, natürlich spreche ich mit manchen auch über den Tod. Aber tatsächlich ist das eher die Ausnahme. Die meisten sind froh, wenn sie abgelenkt werden.

 

E.B.: Welche Rolle spielt die Religion?

S.F.: Ich spreche das Thema von mir aus nicht an. Dafür gibt es Geistliche, die auch auf die Station gehen.

 

E.B.: Ich versuche mir vorzustellen, wie es mir ginge in dieser Situation: ich läge da und würde mit der Frage ringen, was nach dem Tod kommt. Was würdest Du mir antworten?

S.F.: Dass ich es auch nicht weiß und was mich tröstet, wenn ich selber bald sterben müsste: z. B. dass ich ein gutes Leben gehabt habe, dass ich gute Kontakte hatte und vielleicht dazu beigetragen habe, dass sich etwas zum Guten verändert in der Interaktion mit anderen Menschen.

 

E.B.: Ich habe es bei meinem Vater, als er starb, nicht geschafft, ihm auf seine Frage reinen Wein einzuschenken. Ich habe geflunkert, um mich zu schonen …

S.F.: …. und ihn auch. Aber andererseits: Warum solltest Du ihn in den letzten Tagen noch verunsichern?

 „Oft sind die Angehörigen heilfroh, wenn ich komme, weil sie dann für einen kurzen
 Augenblick aufatmen können und nicht immer  um dasselbe Thema kreisen müssen.“ 

E.B.: Warst Du schon einmal in dem Augenblick dabei, als jemand gestorben ist? 

S.F.: Ja natürlich, das ist unsere Aufgabe. Neulich z. B. lag eine alte Dame im Sterben und ihr Sohn war nicht da. Da wurde ich angerufen und gefragt: Hast Du Zeit, kannst Du kommen? Als ich ankam, war der Sohn mittlerweile doch eingetroffen. Ich ging ins Zimmer und fragte: Was wäre Ihnen am liebsten? Soll ich bleiben oder gehen? Soll ich Ihnen Gesellschaft leisten? Da sagte der Sohn: „Am liebsten wäre mir, ich dürfte wieder gehen.“ Ich versprach ihm, bei seiner Mutter zu bleiben und sagte: „Sie können beruhigt gehen.“

 

E.B.: Hat die Mutter das mitbekommen? 

S.F.: Nein, das glaube ich nicht. Aber ich hoffe, sie hat gespürt, dass sie nicht alleine ist. Das ist unsere Hoffnung und der Grund, warum wir das machen. Wir sprechen mit den Patienten und berühren sie, damit sie spüren, dass jemand bei ihnen ist. 

Aber manchmal gibt es auch Abwehrreaktionen, dann möchte derjenige z. B. nicht berührt werden. Ich versuche das so gut wie möglich zu verstehen.

 

E.B.: Gibt es auch Abwehrreaktionen gegen das Sterben selbst, dass sich jemand vehement wehrt?

S.F.: Nein, das habe ich persönlich noch nicht erlebt. Aber jemand, der mit mir die Ausbildung gemacht hat. Da hat sich die Sterbende so heftig gewehrt, dass es fast wie eine Geburt war. Aber ich habe bisher nur erlebt, dass es wie ein Einschlafen war.

 

E.B.: Ist das Bewusstsein meist eingetrübt? Oder kommt es vor, dass jemand beim Sterben ganz klar im Kopf ist?

S.F.: Nein, das habe ich persönlich noch nicht erlebt. Das Bewusstsein war immer eingetrübt. Bei klarem Bewusstsein stirbt man z. B. bei einem Infarkt, aber das sind ja nicht die Patienten, die wir betreuen. 

 

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Dr. Susanne Frese

Frese ist seit 30 Jahren niedergelassene Augenärztin in Düsseldorf. 

2021 begann sie ihre ehrenamtliche Mitarbeit in der Ökumenischen Hospizgruppe Kaiserswerth e.V. Sie hat eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin absolviert und eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin angeschlossen. 

Wer Interesse an einer Ausbildung zum Sterbebegleiter hat: Der nächste Befähigungskurs beginnt am 19.4.2023. www.hospiz-kaiserswerth.de

„Wenn ganz klar ist, dass es keine Hoffnung  mehr gibt und jemand atmet  so schwer, dann gibt es schon auch den  Gedanken, hoffentlich hat er oder  sie es bald geschafft.“

E.B.: Man kann die Dauer des Sterbeprozesses oft nicht einschätzen. Wenn Du neben so jemandem sitzt, ist es dann so, dass Du den Augenblick manchmal herbeisehnst? Oder doch eher fürchtest?

S.F.: Fürchten nicht mehr, weil ich schon häufiger dabei war. Herbeisehnen – na ja, wenn ganz klar ist, dass es keine Hoffnung mehr gibt und jemand atmet so schwer, dann gibt es schon auch den Gedanken, hoffentlich hat er oder sie es bald geschafft.

 

E.B.: Kannst Du Dich noch an das erste Mal erinnern, dass Du jemanden beim Sterben begleitet hast?

S.F.: Ja, das war aber nicht auf der Palliativstation, sondern auf der chirurgischen. Da war ich sehr aufgeregt. Ich war zwar auch vorher bei meinen Eltern dabei, aber wenn Du in Deiner Funktion als Sterbebegleiter dabei bist, dann ist das anders. Du denkst: Hoffentlich mache ich jetzt alles richtig, hoffentlich ist es auch gut so für den Patienten …

 

E.B.: Hat sich mit Deiner Erfahrung auch etwas im Verhalten gegenüber den Angehörigen geändert? Bist Du souveräner geworden?

S.F.: Definitiv und zwar, weil ich zusätzlich zur palliativen Hospizarbeit eine Ausbildung in Trauerbegleitung gemacht habe. Da lernt man z. B., was man besser nicht sagt … Das gibt Sicherheit auch Im Umgang mit den Angehörigen, in Situationen, in denen ich vorher nicht gewusst hätte, was ich hätte sagen sollen. 

 

E.B.: Was sagt man denn besser nicht?

S.F.: „Es wird schon wieder werden“ oder „Ihr hattet doch so viele glückliche Jahre miteinander“. Das will kein Angehöriger hören.

 

E.B.: Auf mich wirkst Du seitdem so, als ob Du aufgeblüht wärest, als ob Du noch mehr Freude am Leben hättest …

S.F.: Das liegt vor allem an der Zusammenarbeit mit den anderen Sterbe- und Trauerbegleitern. Da sind wunderbare Leute dabei, auf die ich mich sonst nie im Leben eingelassen hätte. Menschen, die ich heute unglaublich schätze, denen ich aber nie begegnet wäre, wenn ich nicht die Hospiz-Ausbildung mit ihnen gemacht hätte.

 

E.B.: Wie sieht diese Ausbildung aus?

S.F.: Man muss sich für den Kurs bewerben. Dann wird die persönliche Eignung überprüft. Die Ausbildung dauert ein Dreivierteljahr, es wird z. B. Kommunikation gelehrt, auch praktische Sachen oder Fragen werden behandelt, z. B. wie gehen Kinder mit dem Tod um, gibt es einen Unterschied im Umgang mit dem Sterben zwischen Männern und Frauen …

 

E.B.: Wie sieht die Geschlechterverteilung in den Hospiz-Vereinen aus? 

S.F.: Bei uns war von 20 Kursteilnehmern ein Mann dabei.

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Elisabeth Brockmann

ist bildende Künstlerin und lebt in Düsseldorf.

Zuletzt erschien über sie: DRAMA, RAUM UND LICHT (Kettler Verlag, 2022)

www.elisabeth-brockmann.de

ISBN 978-3-86206-981-1

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