Wenn es ums Kümmern geht, steht von jeher verstärkt das weibliche Geschlecht auf dem Plan. Als Erklärungsmodell für dieses Verhalten werden gerne urzeitliche Muster bemüht: Männer, die das Mammut erlegen, Frauen, die Beeren sammeln und sich um den Nachwuchs und dazu noch um die Alten und Kranken kümmern. Die AWO Düsseldorf, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag coronabedingt eher still feiern musste, hat dem Frauenanteil von 80 Prozent in ihrer Organisation mit der Ausstellung „Frauengesichter der AWO“ Dank und Anerkennung gezollt.

Die Idee, sich solidarisch für die Ärmsten der Armen einzusetzen, für Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit einzutreten, verbindet sich mit dem Namen einer Frau: Marie Juchacz. Sie erblickte 1879 in Landsberg an der Warthe, im heutigen Gorzów Wielkopolski, als Tochter eines Zimmermanns das Licht der Welt. Juchacz arbeitete als Dienstmädchen und Fabrikarbeiterin, war in der Krankenpflege tätig, absolvierte dann eine Lehre zur Schneiderin. Sie trennte sich von ihrem Mann, ging mit ihren beiden Kindern nach Berlin, trat in die SPD ein. Dort machte sie Karriere, wurde Frauensekretärin im Zentralen Parteivorstand und übernahm die Redaktionsleitung der Frauenzeitung „Die Gleichheit“. 

Drei Monate nach Einführung des Wahlrechts für Frauen hielt die 40-Jährige als erste Frau und Reichstagsabgeordnete 1919 eine Rede vor der Weimarer Nationalversammlung. Diese begann sie mit den Worten: „Meine Herren, meine Damen.“ Im Dezember des gleichen Jahres gründete sie zusammen mit vier weiteren Frauen und einem Mann die AWO als Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt in der SPD.  

Nähstuben waren die ersten Einrichtungen der Familienfürsorge und Armenhilfe.
Besondere Hilfen benötigten in den 20er Jahren die Kinder
Marie Juchacz im Wahlkampf zur Reichstagswahl 1930

Fotos: AWO

Nähstuben und Armenküchen

Nur wenige Wochen später, Mitte Januar 1920, gründeten Hedwig Gerlach (1882-1953), Elli Habernickel (1893-1974) und Minna Auguste Elzner (1886-1920) die Ortsgruppe Düsseldorf, die der Ausgangspunkt für die Arbeiterwohlfahrt am Niederrhein wurde. Die AWO errichtete Nähstuben und Armenküchen, organisierte Lebensmittel und sammelte Bekleidung für Hilfsbedürftige und Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges. Die wirtschaftliche Lage war schwierig, die Industrieproduktion zu diesem Zeitpunkt auf den Stand von 1888 zurückgefallen. 

Als die Nazis an die Macht kamen, wurde die AWO verboten und offiziell aufgelöst. Die Mitglieder blieben jedoch untereinander in Kontakt. Sie halfen jüdischen Mitbürgern und Sozialdemokraten, sie wurden verfolgt und in Konzentrationslagern interniert. Elly Becker (1882-1965), die 1925/26 Vorsitzende der Düsseldorfer AWO war, wurde wegen ihres Engagements für die SPD von den Nazis verfolgt und ins Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. 

Lore Agnes (1876-1953) gehörte zu den Gründungsmitgliedern der AWO. Sie war bis 1933 Mitglied des Reichstages, ging in den Untergrund, wurde noch 1933 verhaftet und erst nach schwerer Erkrankung wieder freigelassen. Nach dem missglückten Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 wurde sie erneut von der Gestapo inhaftiert. 

Marie Juchacz war zunächst ins Elsass geflohen, dann 1941 nach New York emigriert, wo sie Flüchtlinge versorgte und Hilfspakete für den Wiederaufbau nach Deutschland schickte. Eine Straße in Mörsenbroich und das Familienzentrum der AWO in Eller wurden nach ihr benannt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

In Düsseldorf waren Lore Agnes und Maria Nitzschke (1895-1990) nach dem Krieg bei der Wiedergründung der Düsseldorfer AWO beteiligt. Von 1953-1968 war Maria Nitzschke, eines von 13 Kindern einer Eisenbahnerfamilie, erste Vorsitzende der AWO Düsseldorf. Ihr wurde wie Margarete  Michel, Gerda Binczok, Gertrud Hanke, Maria van de Sand und Ute Schreiber das Bundesverdienstkreuz verliehen. 

Ruth Willigalla – eine Zeitzeugin

Ein Leben ohne die AWO? Für Ruth Willigalla (Jahrgang 1930) kaum vorstellbar. Sie ist seit 59 Jahren AWO-Mitglied und erinnert sich an Höhepunkte ihrer Amtszeit. Dass sie sich mit 90 Jahren noch so genau erinnert, dafür hat sie viel getan. „2014 bin ich gestürzt, da war alles in meinem Kopf durcheinander. Die Ärzte schoben es auf mein Alter. Aber nur weil ich alt bin, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht mehr denken kann. Ich habe alles neu lernen müssen, aber ich habe es geschafft. Mithilfe von Kreuzworträtseln habe ich mich zurückgekämpft. Einen Satz wie: Da kann man nichts machen, habe ich nie gelten lassen“, erklärt sie. 

In den 70-er Jahren hat sie eine Zeitung für Gastarbeiter ins Leben gerufen. „Guten Tag“ erschien alle zwei Monate auf Türkisch und Jugos- lawisch. Ruth Willigalla hat die Leser trotzdem immer ermuntert, auch die deutsche Ausgabe zu lesen. Für ihre Mitbürger da zu sein, sah sie als ihre Aufgabe an, denn als Gerresheimerin war sie mit Menschen aus vielen Ländern groß geworden, die alle in der Glashütte arbeiteten. „Für meine Mutter waren das nie Ausländer, sondern Menschen. Das hat mich geprägt. Diese Leute mussten doch wissen, wie wir hier ticken. Von den Jugoslawen und Türken wurde die Zeitung begeistert aufgenommen.“ Geschrieben hat sie „Guten Tag“ nachts und ehrenamtlich. Das Lesen und Schreiben ist noch heute ihre Leidenschaft.

Von 1974 bis 1983 war Ruth Willigalla Mitglied des Vorstands und zeitweise stellvertretende Vorsitzende des AWO Kreisverbandes und des Bezirksverbandes Niederrhein. Auf ihre Initiative gehen die Schwangerschaftskonfliktberatung und die Krebsberatung der AWO zurück. 1978 gründete sie den Frauen-Heimatverein „Düsseldorfer Weiter e. V.“, dessen Vorsitzende sie bis zum Jahr 2000 war. Wie sie ihre Arbeit im Rückblick sieht? „Ich habe bei den Sitzungen immer anders gearbeitet als die anderen. Die sind immer ihre Punkte durchgegangen, für mich zählte die Umsetzung.“

 Marion Warden, Kreisgeschäftsführerin der AWO Düsseldorf
Karin-Brigitte Göbel, Vorsitzende des Vorstands der Stadtsparkasse Düsseldorf

© Heike Katthagen

„Frauengesichter der AWO“

Den starken Frauen ein Gesicht zu geben und den Bogen vom Anfang bis zur Gegenwart zu spannen, das war das erklärte Ziel der Ausstellung im September, die auf 14 großformatigen Bannern jene Frauen vorstellte, die das humanitäre Zusammenleben in Düsseldorf geprägt haben. Frauen, die sich dem Naziregime widersetzten,
die Waisenhäuser, KITAS, Seniorenheime und Frauenhäuser gründeten, die Tagesstätten für psychisch Kranke und ein Berufsbildungszentrum ins Leben riefen und sich für die Betreuung von Flüchtlingen einsetzen. Premiere hatte die Ausstellung in den Räumlichkeiten der Stadtsparkasse Düsseldorf, die die Ausstellung
auch finanziell unterstützt hatte. Maron Warden, Kreisgeschäftsführerin der AWO Düsseldorf, hatte sich für diese Ausstellung in die weiblich bestimmte Geschichte der Arbeiterwohlfahrt vertieft: „Starke Frauen haben die AWO Düsseldorf seit ihrer Gründung geprägt. Die hier versammelte
Frauen-Power ist beeindruckend und macht Mut für die Zukunft“, erklärte sie bei der Ausstellungseröffnung. Für Karin-Brigitte Göbel, Vorständin der Stadtsparkasse Düsseldorf, war die Unterstützung auch ein persönliches Anliegen: „Mein Vater war Arbeiter, ich komme aus Bochum. Ich weiß, wo den Menschen der Schuh drückt. Ich habe viele Einrichtungen der AWO besucht, ich war in KITAs und im Berufsbildungszentrum und bin jedes Mal beeindruckt von der Arbeit und den Projekten.“  

Geplant war, aus den „Frauengesichtern der AWO“ eine Wanderausstellung zu machen. Auch hier machte Corona einen Strich durch die Rechnung. Deshalb plant die AWO im nächsten Jahr, also im 101. Jahr, die Ausstellung noch einmal zu zeigen, zusammen mit der Ausstellung „Männergesichter der AWO“. Denn Gleichheit und Gerechtigkeit sollen auch in der Ges(ch)ichtsaufarbeitung gelten.

Susan Tuchel

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