Muscheln, Schnecken, Seeigel und Krebstiere wie Hummer und Krabben werden in der Küchensprache allgemein als Schalentiere bezeichnet und verspeist. Romantischer werden die Gefühle beim Strandspaziergang, wenn wir Muschelschalen als Souvenir sammeln. Die finden wir wunderschön und denken an die schaumgeborene Venus von Botticelli. Stefan Curth ist Kurator der wissenschaftlichen Sammlung im Aquazoo Löbbecke Museum. Sein Verhältnis zu Weichtieren ist speziell. Wir besuchten ihn in den Katakomben des Museums.

 © Alexander Vejnovic, das-fotostudio-duesseldorf.de

Tief unter den Ausstellungen des Aquazoos liegt das Magazin. Riesige Rohre verlaufen durch den Raum. Es herrscht gepflegtes Chaos oder – positiv ausgedrückt – eine wissenschaftliche Arbeitsatmosphäre. Von der vierten Pandemiewelle bekommt der Zoologe Stefan Curth bei seiner wissenschaftlichen Arbeit nur wenig mit. Als Kurator von Ausstellungen im Aquazoo hingegen schon. Aktuell können sich nur 250 statt 850 Besucher zeitgleich im Zoo aufhalten. Für den Aquazoo eine bittere Pille, denn mit 450.000 Besuchern in Nicht-Corona-Jahren ist er eine der bestbesuchten Kultureinrichtungen der Stadt. Doch Aktionen und Sonderausstellungen laufen weiter auf Hochtouren, denn 2021 ist das „Löbbecke-Jahr“ anlässlich des 200. Geburtstags von Carl Heinrich Wilhelm Theodor Löbbecke (1821-1901). Und damit stehen Tiere im Mittelpunkt, die so gar nicht „cute“ (niedlich) sind: Weichtiere, zu denen Muscheln und Schnecken gehören. Sie haben den Apotheker und Museumsgründer Theodor Löbbecke so fasziniert, dass er sie in Pillendosen sammelte und archivierte. Ein Schatz, den es für Stefan Curth digital zu heben gilt. 

Sie sind im Jahr 2018 mit 32 Jahren Kurator der Ausstellungen im Aquazoo Löbbecke Museum geworden und sind außerdem verantwortlich für die wissenschaftliche Sammlung. Heißt das, Sie wollten definitiv nichts mit Menschen machen?

Das kann man so nicht sagen, aber ich habe schon als Kind Muscheln und Federn gesammelt und mich für die Natur und Naturobjekte interessiert. Ursprünglich habe ich Biologie und Englisch auf Lehramt studiert und mein erstes Staatsexamen gemacht. Während meines Studiums am Zoologischen Institut in Jena habe ich viel im Phylethischen Museum gearbeitet, das zur Uni gehört. Dort wird die Stammesgeschichte, die Phylogenese, erforscht. Ich habe mich mit der Schädel- und Skelettsammlung beschäftigt und dann über Wolfs- und Hundeschädel promoviert. Anschließend war ich Volontär im Ausstellungshaus „Brehms Welt“ in Thüringen. Als 2018 die Stelle als Kurat or in Düs- seldorf ausgeschrieben wurde, hatte ich mir als Berufsanfänger eigentlich keine Chancen ausgemalt, aber die Chemie zwischen Institutsdirektor Jochen Reiter und mir hat gleich gestimmt.

Wie sieht Ihr Arbeitstag aus?

Wenn es nicht gerade eine Ausstellung zu planen gilt, sitze ich meist vor dem Computer und inventarisiere unsere Sammlung oder beantworte Anfragen zu Sammlungsobjekten. Rund 170.000 Conchylien, also Muschel- und Schneckenschalen, Kopffüßergehäuse und Brachiopoden aus 70.000 Arten hat uns der Namensgeber unseres Museums Theodor Löbbecke hinterlassen. Sie stammen von eigenen Reisen, aber auch aus dem Ankauf von Sammlungen. Alle Exponate werden in unsere Museumsdatenbank und auch in internationale Datenbanken eingepflegt. Das ist wichtig, weil wir nur so anderen Wissenschaftlern unser Material zugänglich machen können. Wenn z. B. ein Japaner denkt, er hätte eine neue Art gefunden, schicken wir ihm als Vergleichsmaterial Fotos von uns. Da die Wissenschaft immer fortschreitet, wird auch die Inventarisierung nie abgeschlossen sein. Immer wieder gibt es neue Informationen zu ergänzen. Wir werden dabei auch von Ehrenamtlern unterstützt, weil mein Team und ich das allein gar nicht leisten könnten.

Wer interessiert sich denn außer Wissenschaftlern für Conchylien?

Es gibt eine ganz lebendige Community von Menschen, die sich für Conchylien interessieren. Auf Facebook tummeln sich tausende Interessierte in entsprechenden Gruppen von den Seashell Collectors mit 8.500 Mitgliedern bis hin zur Collecting Sea Shells-Gruppe mit 14.700 Mitgliedern. Jährlich locken internationale Shell Shows, also Conchylienbörsen, hunderte interessierte Besucher an. Auch lokal und in Deutschland treffen sich die Muschelsammler: Der Verein Club Conchylia zählt 320 Mitglieder. Mit acht von ihnen werde ich im November die Ausstellung „Löbbeckes Erben“ gestalten. Bei dieser Ausstellung, so viel kann ich schon jetzt verraten, wird eine neue Schneckenart vorgestellt, die einer der Ehrenamtler in unserem Magazin entdeckt hat. Sie hat dort 100 Jahre gelegen, aber nur er hatte das Spezialwissen, sie als neue Art zu beschreiben. 

Was fasziniert Sie an 300.000 Schalen? 

Die Kunstformen und Schönheit der Natur, die geometrischen Formen. Mich begeistert ihre Vielfalt. Es gibt Schalen in allen Farben von leuchtend grün bis einfarbig weiß, wobei alle Farben und Formen ihre ökologische Bewandtnis haben. Es gibt Schnecken mit großen Stacheln. Manche graben sich ein. Muscheln haben z. B. so genannte Byssus-Fäden, mit denen sie sich am Meeresgrund festkleben. Die Bionik erforscht, aus welchem Material diese Fäden sind, um es für technische Anwendungen einzusetzen. Was vielen Menschen auch nicht klar ist: Muscheln und Schnecken sind nicht irgendwelche „Schleimbatzen“, sondern Körper mit Gewebe, Organen, mit Kiemen, mit einem Herz usw. Im Ökosystem übernehmen Muscheln wichtige Funktionen. Sie filtrieren Gewässer. Eine Auster filtriert pro Tag 240 Liter Wasser durch ihren Körper. Weichtiere dienen anderen Tieren wie z. B. Vögeln als Nahrungsgrundlage. Selbst die von Gärtnern wenig geliebten Nacktschnecken fressen abgefallene Vegetation und helfen so bei der Humusproduktion. Übrigens sind die Muscheln, die Urlauber als Souvenir am Strand sammeln, oft gar keine Muscheln, sondern Schneckengehäuse. 

Muscheln und Schnecken: die einen schätzen sie als Urlaubsmitbringsel, die anderen als Delikatesse. Für das Aquazoo Löbbecke Museum jedenfalls sind sie unerschöpfliche Quelle für Wissenschaft und Bildung und ein wichtiger Teil der Institutsgeschichte. 

Wie erkenne ich den Unterschied?

Schnecken haben spiralförmige Windungen in ihrer Schale und ein einteiliges Gehäuse. Muscheln haben eine zweiteilige Schale. Wenn die Schale hinten kein Schloss, also eine Art Scharnier hat, handelt es sich um ein Schneckengehäuse.

Wie sieht es mit der Fortpflanzung aus?

Muscheln setzen Eier und Sammenzellen frei, die im Meer umherschwimmen. Aus den befruchteten Eizellen entwickeln sich Larven, die langsam zur ausgewachsenen Muschel heranwachsen. Sozialsysteme gibt es bei diesen Weichtieren nicht, aber Kolonien. Es gibt auch solitäre Lebensformen. Schnecken hingegen sind meist Zwitterwesen. Sie begeben sich in ihrem Tempo auf die Suche nach einem Geschlechtspartner und haben dann quasi gegenseitig Sex. 

Essen Sie Schalentiere und welche Muscheln leben im Rhein?

Ich esse weder Muscheln noch Schnecken, aber nicht aus Mitleid, sondern weil sie mir einfach nicht schmecken. Im Rhein gibt es Wandermuscheln und Körbchenmuscheln, die wären prinzipiell essbar, aber niemand isst sie. Dafür sind sie wohl auch zu klein.

Wasserlandschaft mit animierten Urzeitwesen

Auf 40 Quadratmetern bringt eine interaktive Medienprojektion seit April den Besuchern die Evolution näher. Ein urzeitlicher Fleischflosser, der Eusthenopteron, schwimmt an den Füßen vorbei. Wir befinden uns im Zeitalter „Devon“ vor mehr als 300 Millionen Jahren. Ein kleiner Schwarm Fische verfolgt die Gäste auf Schritt und Tritt. Auf der nächsten Evolutionsstufe ist der Tiktaalik zu sehen, der sich durch kleine Vorderbeine und Flossen sowohl im Wasser als auch an Land fortbewegen konnte. Der dritte im Evolutionsreigen ist Pederpes, eines der ersten an Land lebenden Wirbeltiere aus dem Carbon-Zeitalter mit vier voll entwickelten Beinen. Die Projektion ist Teil der Dauerausstellung und wurde mit dem Morphoria Design Kollektiv und der Hochschule Düsseldorf entwickelt. 

Susan Tuchel

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