Der Mund ist das offensichtlichste und für die meisten Menschen zugleich das wichtigste „Einfallstor“ in unseren Körper. Schließlich trinken und essen wir täglich und auch ganz gerne – vom Küssen einmal ganz abgesehen. Dabei wird der Mundraum laufend mit unzähligen Fremdkörpern, den Antigenen, konfrontiert. Wenn die körpereigene Abwehr intakt ist, bemerken wir von den ständigen Kämpfen zwischen guten und schlechten Bakterien in der Mundhöhle nichts. Aber was passiert, wenn die Immunzellen Defizite haben? Und was kann man selbst für eine gesunde Mundflora tun, die für den allgemeinen Gesundheitszustand so wichtig sein soll? Darüber sprachen wir mit den beiden Düsseldorfer Familienzahnärztinnen Beate Jürgens und Susanne Hörmann.
Wie gesund wir sind, hängt in erster Linie an unserem Immunsystem. Wie gut sind wir da aufgestellt?
Beate Jürgens: Zahlenmäßig mehr als beeindruckend. Ein erwachsener Organismus besitzt etwa zehn Milliarden Immunzellen und noch hundert Millionen Mal so viele Antikörper.
Würden wir das auf eine Waage legen, würden diese Zellen bis zu zwei Kilogramm wiegen. Das ist mehr als das, was ein Herz, eine Niere oder das Gehirn wiegt. Und während wir hier sitzen und sprechen, sind unsere Körper damit beschäftigt, neue Zellen aufzubauen, weil die meisten Immunzellen nur wenige Tage alt werden.
Gut, aber warum ist das für Sie als Zahnärztin von Belang? Sie sind doch „nur“ für die Zähne zuständig.
Beate Jürgens: Weit gefehlt, wir sind als Zahnärzte für den gesamten Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich zuständig. Die Wissenschaft geht davon aus, dass eine enge Wechselwirkung zwischen dem Immunsystem des Körpers und dem Immunsystem im Mund besteht. Man könnte sagen, gesund beginnt im Mund. Stimmt etwas im Mundraum nicht, erkranken oft andere Organe. Menschen mit Parodontitis haben zum Beispiel ein um 25 Prozent höheres Risiko für Herzerkrankungen. Diabetes mellitus, rheumatoide Erkrankungen und Frühgeburten werden mit entzündlichen Vorgängen im Mundraum in Zusammenhang gebracht. Auch Alzheimer soll Zusammenhänge mit dem blutenden Zahnfleisch haben und Frauen mit gynäkologischen Problemen haben oft Zahnfleischerkrankungen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen
Corona und dem Mundraum?
Beate Jürgens: Forscher der Universität von Katar in Doha haben herausgefunden, dass Menschen mit Parodontitis eine 6-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit haben, einen schweren Corona-Verlauf zu erleiden. Zieht man Risikofaktoren wie Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit), Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ab, ist der Faktor immer noch 3,5-fach erhöht. Und wir reden hier nicht von Einzelfällen. 80 Prozent der Erwachsenen haben Zahnfleischentzündungen, die Vorstufe zur Parodontitis und 50 Prozent haben Parodontitis. Diese entsteht durch Zahnbeläge, also durch Bakterien.
Wie im Darm leben auch im Mund Bakterien und das ist eigentlich auch gut so, sie schützen uns …
Susanne Hörmann: Das stimmt, wir haben mehr als 800 verschiedenen Bakterien in der Mundhöhle. Diese Mikroorganismen, Bakterien, Pilze und Viren haften an den Oberflächen aneinander an. Biofilme haben wir eigentlich im ganzen Körper. Diese können entweder förderlich oder schädlich für den Menschen sein. Laut den National Institutes of Health (NIH) werden jedoch über 75 Prozent der mikrobiellen Infektionen im menschlichen Körper durch die Zusammensetzung und Durchlässigkeit von Biofilmen begünstigt. Im Mundraum können Biofilme infektiöse Erkrankungen wie Parodontitis auslösen. Sie sind aber auch für Karies und Zahnfleischbluten mitverantwortlich.
Haben wir immer dieselben Bakterien
im Mundraum?
Beate Jürgens: Nein, das Zusammenspiel der Bakterien ist nicht statisch. Es ändert sich mit jeder Mahlzeit und jedem Zähneputzen. Aber auch Stress verändert die Zusammensetzung, von einem intensiven Kuss einmal ganz zu schweigen. Und jede Mundflora ist von ihrer Besiedelung her so individuell wie ein Fingerabdruck.
Woran erkenne ich, wenn etwas nicht stimmt?
Beate Jürgens: Bei Karies bekommen Sie irgendwann Zahnschmerzen und jeder Parodontitis geht eine Entzündung des Zahnfleisches mit Zahnfleischbluten voraus. Auch Mundgeruch kann ein Anzeichen sein, dass die Mundflora aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wir sind in unserer täglichen Arbeit eigentlich permanent damit beschäftigt, die krankmachenden Bakterien aus den Mundhöhlen unserer Patientinnen und Patienten zu verbannen.
Wie gehen Sie da vor?
Susanne Hörmann: Wenn es den schlechten Bakterien schon gelungen ist, sich zwischen Zahnfleisch und Zahn in den sogenannten Zahntaschen einzunisten, führen wir eine Parodontitis-Behandlung durch. Dabei säubern wir die Taschen in der Tiefe und natürlich müssen alle Beläge von den Zähnen runter und vor allem aus den Zahnzwischenräumen heraus.
Tägliches Zähneputzen morgens und abends ist ja in Ordnung, aber wie wichtig sind denn Zahnseide oder Interdentalbürstchen wirklich?
Beate Jürgens: Ich habe in meiner langjährigen Praxis als Zahnärztin viele Putztrends der Industrie verfolgt. Vor sechs Jahren bin ich auf das einfache und genormte Konzept des Trierer Zahnarztes Ralf Petersen gestoßen: SOLO-Med. Zur präzisen Entfernung der schädlichen Karies- und Parodontitis-Bakterien (Biofilme) benötigen wir nur eine genormt harte Einbüschelzahnbürste und die individuell passenden Zahnzwischenraumbürsten. Mehr nicht.
Und da sind wir beim Thema Eigenverantwortung. Der Zahnmediziner kann seinen Patienten die Mundhygiene nicht abnehmen. Er kann bei der professionellen Zahnreinigung zwei bis vier Mal im Jahr nur eine gute Basis schaffen. Aber wie geht die Zahnpflege zu Hause weiter? Laut einer Studie nutzen nur 59 Prozent der Teilnehmer Zahnseide oder Interdentalbürsten und nur 11 Prozent nutzen Zahnseide mindestens einmal täglich, um die Zahnzwischenräume zu reinigen. Das heißt im Umkehrschluss, dass 41 Prozent der Bundesbürger ihre Zahnzwischenräume überhaupt nicht reinigen. Aber 95 Prozent aller krankmachenden Bakterien sitzen nun einmal in den Zahnzwischenräumen.
Was kann ich denn selbst machen? Kann ich meine Mundflora mit Ernährung beeinflussen?
Susanne Hörmann: Alles, was den Körper stärkt und Entzündungen lindert, hilft auch der Mundhöhle. Dazu gehören z. B. Ingwer, Zwiebeln oder Knoblauch, aber auch Brokkoli und Sesam.
Noch nicht einmal ein Prozent der 48.853 Zahnarztpraxen arbeitet aktuell bundesweit nach dem Solo-Prophylaxe-Prinzip. In Düsseldorf gibt es derzeit vier Zahnarztpraxen. Einen Praxisfinder gibt es hier:
Was schadet?
Beate Jürgens: Definitiv Zucker. Zucker bringt das gesunde Mikrobiom zum Kollabieren. Im Labor bleibt das auch so, aber die menschliche Mundhöhle kann sich wieder regenerieren, wenn man den Zucker eine Zeit lang weglässt und sich ausgewogen ernährt. Was vielen Menschen auch nicht bewusst ist, ist, dass die Einnahme von Medikamenten das Speichelmilieu beeinflusst. Einige Medikamente führen zu Veränderungen der Mundschleimhaut oder zu Mundtrockenheit. Die Pharmaindustrie ist in erster Linie darauf bedacht, Bakterien zu eliminieren und wirbt für Mundspüllösungen mit Alkohol, die aber auf Dauer die Zellwände der Mundschleimhaut löchrig machen. Es ist ein bisschen wie beim Geschirrspüler. Wir erzielen ein gutes Spülergebnis, aber mit Chemie. Bei den Zähnen ist eine präzise mechanische Reinigung vor allem der Zahnzwischenräume nach der Solo-Prophylaxe-Methode der beste Weg, um die Mundflora im Gleichgewicht zu halten. Und spülen kann man auch sehr gut mit Salzwasser.
Susan Tuchel