Als vor rund 30 Jahren die ersten Frauen ihren Dienst antraten, war die Polizei noch eine reine Männerdomäne. Im Oktober 1982 waren erstmals 74 von insgesamt 1.661 Nachwuchspolizisten in NRW weiblich. Die ersten Polizistinnen mussten noch einige Hürden nehmen, ob es um passende Uniformen, gleichberechtige Ausbildungsmöglichkeiten oder Durchsetzungskraft auf der Straße ging. Für ihre männlichen Kollegen war es häufig zunächst ein Kulturschock gemeinsam mit einer Frau auf Streife zu gehen, bis sie feststellten, dass auch Frauen Polizei können. Heute gehören Polizistinnen bundesweit längst fest mit zum Team.
Inzwischen arbeiten bei der Polizei in Bund und Ländern deutlich mehr Frauen als noch in den 1980er Jahren. In den letzten 20 Jahren stieg der Frauenanteil von 20,0 Prozent auf 29,3 Prozent. So waren 2019 insgesamt 97.700 von 333.600 Beschäftigten bei der Polizei weiblich*. Eine von ihnen ist die Düsseldorferin Britta Zur. Seit Dezember 2019 ist sie Polizeipräsidentin in Gelsenkirchen, eine von nur sehr wenigen Frauen in dieser Führungsposition und Chefin von über 1.700 Mitarbeitenden. Wir sprachen mit ihr über Veränderungen, Herausforderungen und Chancen bei der Polizei als einer Behörde, die auch „ein Spiegel der Gesellschaft“ sein will.
Sie sind die jüngste Polizeipräsidentin Deutschlands – wie haben Sie das gemacht?
Eine Polizeipräsidentin ist eine politische Beamtin, d. h., man wird ernannt, man bewirbt sich nicht. Ich war zwölf Jahre in der Justiz in Düsseldorf tätig, davon war ich ein Jahr Richterin und dann elf Jahre Staatsanwältin. Nachdem ich neun Jahre Mord- und Totschlagsdelikte bei der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft bearbeitet habe, wurde ich Pressesprecherin der Behörde – und habe mich in den letzten eineinhalb Jahren ausschließlich mit dem Thema Gewalt gegen Einsatzkräfte beschäftigt. Im Rahmen dieses Themas war ich daran beteiligt, bei der Staatsanwaltschaft Düsseldorf eine neue Abteilung aufzubauen, die ausschließlich mit diesen Thematiken betraut ist. In diesem Zusammenhang habe ich sehr viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht in Talkshows im Fernsehen, Radio, auf Podiumsdiskussionen, um für dieses Thema ein Bewusstsein zu schaffen. Auf einer Podiumsdiskussion lernte ich unseren Innenminister Herbert Reul kennen, der ebenfalls an der Diskussion teilgenommen hat. Wenige Wochen später klingelte das Telefon. Herr Reul war dran und bat mich in sein Büro.
Was war das für ein Gefühl?
Das war völlig surreal. Denn Polizeipräsidentin zu werden, ist nicht gerade etwas, was man in seinem Erwartungshorizont hat. Es gibt 18 Polizeipräsidenten in NRW, das ist im Prinzip ein Lottogewinn. Ich wusste ein bisschen, worum es geht, weil mir ein Vögelchen das vorher gezwitschert hatte. Ich war also nicht ganz ahnungslos, als ich dann beim Innenminister im Büro saß, aber als er dann letztlich die Frage gestellt hat, war das schon ein besonderer Moment. Man wird nur einmal gefragt, ob man Polizeipräsidentin werden möchte. Und dann habe ich auch nicht lange überlegt. Herr Reul sagte: „Wenn Sie jetzt ,Ja‘ sagen, gebe ich Ihnen das Polizeipräsidium Gelsenkirchen“ und dann habe ich direkt ,Ja‘ gesagt. Am 23.12.2019 hielt ich meine Urkunde, als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk, in den Händen.
Wenn Sie jetzt nach zwei Jahren ein erstes Resümee ziehen – wie war diese Zeit?
Es waren sicherlich die beiden spannendsten und bewegendsten Jahre meines Lebens. Gelsenkirchen ist eine besondere Stadt und eine besondere Behörde. Es gibt im Land NRW kleine und große Polizeipräsidien und es gibt Gelsenkirchen. Wir sind von den kleinen Präsidien mit Abstand das größte und wir haben auch dieselben Probleme wie die großen. Durch Corona hatte ich nur sehr wenige Wochen, um diese Behörde unter Normalbedingungen zu führen. Ich habe mich in den letzten Jahren überwiegend mit pandemischen Themen auseinandersetzen müssen, weniger mit polizeilichen, das hat natürlich vieles erschwert. Ich hatte wenig Zeit, um mich in polizeiliche Sachthemen einzuarbeiten, da wir einfach alle von der Pandemie überrollt worden sind. Und gerade als junge Behördenleiterin, die gerade erst angefangen hat – ich war ja gerade erst im Amt, als es mit Corona losging – und war besorgt, dass mir Einheiten wegbrechen und ich die Sicherheit der Stadt nicht gewährleisten kann. Das war für jeden schlimm, keine Frage, aber wenn man als Polizeipräsident schon ein paar Jahre fest im Sattel sitzt und genau weiß, wie alles läuft, dann hat man es vielleicht auch ein bisschen leichter, sich auf eine solche Extremsituation einzustellen. Ich bin im Prinzip sofort ins kalte Wasser geworfen worden. Neben der neuen Aufgabe mit Personalverantwortung für über 1.700 Menschen kam dann auch noch Corona hinzu.
Was ist Ihnen als Polizeipräsidentin
besonders wichtig?
Ich bin eine Polizeipräsidentin, die nicht im Glaskasten sitzt. Ich nehme mit vielen Menschen Kontakt auf, dabei arbeite ich sehr stark nach innen. Ich fahre oft mit meinen Leuten auf Streife. Ich bin viel mit meiner Hundertschaft unterwegs, ich begleite häufig die K-Wache (Abk. für Kriminalwache, die Red.), ich mache sogar die Leichenschau teilweise selbst. Die Polizei ist eine sehr gut funktionierende Behörde, aber ich glaube, es ist meine Aufgabe, meinen Leuten zu zeigen, wofür wir stehen, eine Haltung zu vermitteln und auch das Herz der Behörde zu sein. Mir ist es wichtig, dass meine Leute wissen, dass ich für sie da und ansprechbar bin, dass ich nicht einfach nur die Chefin bin, die Urkunden überreicht, sondern versuche dieser Behörde auch ein Herz zu geben. Ich mache sehr viel Öffentlichkeitsarbeit, denn ich finde es sehr wichtig, der Polizei ein Gesicht zu geben. Ich glaube, wir müssen uns fassbar machen. Nur wenn ich ein Gesicht habe, kann ich auch Vertrauen haben, als Bürgerin und Bürger. Ich halte es für genauso wichtig, meinen Polizeipräsidenten zu kennen wie den Oberbürgermeister. Ich muss Gesichter haben und mit den Gesichtern Haltungen und Werte verbinden. Und wenn wir das nicht tun als Polizei, wenn wir nur denjenigen am Stammtisch das Reden überlassen und denjenigen, die sonntags den Tatort gucken, dann kommen wir nie aus dieser Schmuddelecke raus, mit dem Tenor, die Polizei sei rechts, oder hat den und den wieder laufen lassen oder die Polizei sei brutal und die tun nix gegen Kinderpornographie. Deswegen glaube ich, dass es sehr wichtig ist, dass wir zeigen, wer wir sind und was wir können. Ich mache diese ganze Öffentlichkeitsarbeit nicht um mich selbst darzustellen, sondern um diesen ganzen coolen Apparat, der hinter mir steht, nach vorne zu bringen. Wir haben so viele tolle Leute, die auf gut Deutsch gesagt, jeden Tag ihren Arsch riskieren, damit unsere Gesellschaft sicher bleibt. Keiner macht sich Gedanken darüber, wie wichtig eine funktionierende Polizei für eine funktionierende Gesellschaft ist, das kann man nicht oft genug sagen. Ich möchte immer wieder zeigen, dass es Menschen sind, die in den Uniformen stecken, die vor allem eins verdienen – unseren Respekt.
Wir haben das ja schon kurz angeschnitten,
dass die Einsatzkräfte der Polizei sich zunehmender Gewalt ausgesetzt sehen, wie gehen
Sie gegen diese Entwicklung an?
Das ist ein großes Problem, mit dem wir nicht nur in Gelsenkirchen zu kämpfen haben. Wir können landesweit steigende Zahlen bemerken. Der Gesetzeber hat 2017 darauf reagiert und den Paragraphen 114 StGB geschaffen. Damit wurde auf den tätlichen Angriff eine Mindeststrafe von mehreren Monaten angesetzt. Wichtig für mich war zunächst, dass ich als Behördenleiterin meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern deutlich gemacht habe, dass ich immer hinter ihnen stehe (zeigt auf einen Aktenstapel auf dem Tisch). Das sind alles Strafanträge, das sind alles Verfahren von Kollegen, die im Dienst verletzt oder beleidigt worden sind. Ich glaube, dass sich bei vielen Kollegen diese Haltung durchgesetzt hat, da passiert ja sowieso nix, das wird ja eh wieder eingestellt, da kommt ja eh nix bei rum. Es ist wichtig, dass wir von dieser Haltung wegkommen, eben dadurch, dass man den Leuten signalisiert, das ist nicht so. Steh auf und wehr‘ dich! Das versuche ich zu vermitteln, ich unterschreibe viele Strafanträge, ich stehe in ständigem Austausch mit der Justiz und gehe denen auch regelmäßig damit auf die Nerven. Verfahrenseinstellungen, die zu Lasten meiner Beamtinnen und Beamten gehen, kommentiere ich mit einem bösen Brief. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch wiederum das Thema Öffentlichkeitsarbeit, um den Kolleginnen und Kollegen Respekt zu verschaffen. Wir machen zum Beispiel regelmäßig eine Facebookstreife, d. h. ein Kollege aus der Pressestelle begleitet zwei Kollegen in Ausübung ihres Dienstes im Streifenwagen und zeigt wie die arbeiten, das schafft sehr viel Bürgernähe und Vertrauen.
Was meinen Sie, woran das liegt
mit dem mangelnden Respekt?
Ich bin natürlich Juristin und keine Soziologin, um die Gründe dafür zu bewerten. Aber aus meiner beruflichen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass der Verlust von Respekt oder die Zunahme von Verrohung sehr eklatant ist. Zugleich hat sich aber auch das Bewusstsein geändert. Also nicht nur, dass es mehr Angriffe oder Übergriffe gibt, sondern auch, dass die Beamten ein Gefühl dafür bekommen haben, dass ihnen im Falle des Falles auch geholfen wird. Das heißt für sie im Umkehrschluss auch ,ich schlucke das nicht mehr‘. Zusätzlich hat Corona sicherlich auch dazu geführt, dass viele Menschen mit Unverständnis und Wut auf politische Entscheidungen reagieren. Wir sind Entscheidungsträger und repräsentieren den Staat mit unserer Uniform. Deshalb assoziieren die Menschen mit uns diese ganzen Maßnahmen, die sie nicht gut finden. Hinzu kommt auch noch – das haben wir gerade in den Zeiten der Lockdowns gemerkt – die Menschen hatten nichts zu tun und brauchten ein Ventil für ihre Aggressionen. In diesem Zusammenhang gab es auch eine hohe Anzahl an Übergriffen. Gestern gab es z. B. einen Vorfall, da hat sich ein Kollege im Rahmen eines Einsatzes das Wadenbein und das Sprunggelenk gebrochen. Es kam zu einer Prügelei mit einem Widerständler und der Kollege liegt jetzt schwer verletzt im Krankenhaus. Man muss sich das auch einfach mal bewusst machen, was das bedeutet, gerade für die Kollegen im Wach- und Wechseldienst. Im Prinzip fangen sie ihre Schicht an und wissen nicht im Ansatz, was sie erwartet, auf wen sie treffen werden und ob sie in einem Stück nach Hause kommen werden. Richtig angefangen habe ich in Gelsenkirchen im Januar 2020. An dem Tag bevor ich angefangen habe, hat ein 23jähriger Kommissar Anwärter in einer Notwehr-Situation einen Mann erschossen. Im April 2020 hatten wir einen Kollegen vom SEK Münster hier. Dieser junge Mann ist hier in Gelsenkirchen im Rahmen eines Einsatzes mit meinen Leuten erschossen worden. Man muss sich darüber bewusst sein, dass das Situationen sind, die jeden Tag passieren können.
Was würden Sie jungen Frauen für ihre
berufliche Entwicklung raten?
Ich denke, dass Frauen oft das Problem haben, dass sie sich bestimmte Aufgaben, gerade in Führungspositionen, nicht zutrauen. Das ist schon ein Kernproblem, wir müssen lernen uns mehr zuzutrauen und wir müssen aufhören uns vor diese Entweder-Oder-Wahl zu stellen. Entweder ich bin Mutter oder ich mache Karriere. Letztlich ist es ja so, wenn ich nur Mutter bin, sagen alle: ,Die steht ja nur am Herd.‘ Wenn ich nur arbeite, meinen die Leute: ,Das ist voll die Karrierefrau.‘ Wenn ich aber Kinder habe und arbeite, heißt es: ,Das ist voll die Rabenmutter.‘ Also egal, wie man es macht, man steht immer in der Kritik und dieses Problem haben überwiegend Frauen. Wir müssen uns davon freimachen, nur weil wir Kinder bekommen können, heißt das nicht, dass wir uns zwischen Kindern und Karriere entscheiden müssen. Frauen sind häufig so tolle Vorbilder und haben eine großartige Art mit Mitarbeitern umzugehen. Natürlich gibt es auch tolle Männer.
Frauen in Führungspositionen sind bei der Polizei auf dem Vormarsch – würden Sie sagen, sie sind mittlerweile in allen Diensträngen auf Augenhöhe mit ihren männlichen Kollegen?
Wir haben bei der Polizei Gelsenkirchen einen Männeranteil von 75 Prozent. Wenn man diese Zahl sieht, wird einem klar, wir sind noch nicht auf Augenhöhe. Hier in Gelsenkirchen haben wir das große Glück, dass wir sehr viele junge Frauen in Führungsfunktionen haben, deutlich mehr als in anderen Präsidien. Und viele Frauen, die bei der Polizei anfangen, also viele junge Kommissar-Anwärterinnen. Aber in der mittleren Führungsebene sind noch nicht so viele Frauen vertreten, da sind wir noch unterrepräsentiert. Ich finde das sehr wichtig, denn wir wollen als Polizei ein Spiegel der Gesellschaft sein. Das sind wir nicht, wenn hier nur Männer arbeiten. Die Polizei war über Jahrzehnte hinweg männerdominiert. Letztes Jahr habe ich drei männlichen Kollegen eine Urkunde zum 40jährigen Dienstjubiläum überreicht. Ab dem nächsten Jahr kann ich erstmalig auch Frauen zum 40jährigen Dienstjubiläum gratulieren, eben den Frauen, die 1982 bei der Polizei angefangen haben.
Sie pendeln jetzt seit zwei Jahren zwischen
Düsseldorf und Gelsenkirchen,
wie empfinden Sie die beiden Städte?
Ich mag den Kontrast zwischen beiden Städten und profitiere sehr davon, dass ich zwischen diesen beiden Welten hin und her pendeln darf. In Düsseldorf bin ich zu Hause, ich mag die Stadt wahnsinnig gerne. Es ist eine Stadt mit sehr hoher Lebensqualität. Ich finde auch, dass eine Stadt, die am Fluss liegt, meistens etwas Besonderes hat, ich gehe hier viel laufen, z. B. am Rhein oder im Wald. Besonders gefällt mir an Düsseldorf, dass es eine Großstadt ist, die trotzdem zurecht das Wort „Dorf“ im Namen trägt. Ich bin zwar nicht unbedingt Karnevalistin, aber ich weiß doch das Rheinland mit seinem Brauchtum und vor allem die herzliche rheinische Art zu schätzen. In Gelsenkirchen fühle ich mich ebenfalls sehr wohl. Ich bin hier von Anfang an mit offenen Armen empfangen worden. Vorher hatte ich mit Gelsenkirchen oder dem Ruhrgebiet fast keine Berührungspunkte. Doch die Gelsenkirchener haben es mir sehr leicht gemacht. Die Menschen aus dem Ruhrgebiet tragen ihr Herz bekanntlich auf der Zunge, was mir sehr entgegenkommt, weil ich das auch tue. So ist Gelsenkirchen tatsächlich meine zweite Heimat geworden.
Alexandra von Hirschfeld