Wie der Marokkaner Said Oujjir und seine Verlobte Debora Stender aus Düsseldorf das verheerende Erdbeben in Marokko erlebten

Marokko ist bei den Deutschen vor allem als Reiseland bekannt. Lange Sandstrände, viele kulturelle Sehenswürdigkeiten, bunte Basare. Und plötzlich ist alles anders. Am Freitag, den 8. September 2023, erlebt das Land, in dem 37 Mio. Einwohner leben, das schwerste Erdbeben seit Jahrzehnten mit einer Stärke von 6,8 auf der Richterskala. Mitten in der Nacht werden die Menschen von dem Erdbeben überrascht. Das Epizentrum befindet sich unweit von Marrakesch in der Provinz Al-Haouz. Bislang sind fast 3.000 Todesopfer bestätigt, rund 5.530 Personen wurden verletzt und über 300.000 Menschen sind betroffen.

Eine Touristin aus Düsseldorf, die sich zum Zeitpunkt des Bebens in Agadir aufhielt, berichtet: „Plötzlich fingen alle Vögel an, wie wild durcheinander zu zwitschern. Dann konnte man spüren, wie die Erde bebte.“

 Im Bus unterwegs durchs Epizentrum

Ausgerechnet in dieser Freitagnacht ist Said Oujjir mit dem Bus von seiner Heimatstadt Agadir über Marrakesch nach Rabat unterwegs. Hier will er die Abschlussprüfung seines Deutschkurses ablegen. Den Kurs hat er absolviert, um die Muttersprache seiner Verlobten Debora Stender aus Düsseldorf zu lernen und sie hier zu besuchen. 

Die Fahrt ins 600 Kilometer entfernte Rabat dauert ca. acht Stunden. Said hat sich entschlossen nachts zu fahren, damit er morgens pünktlich zur Prüfung vor Ort ist. Um 21.30 Uhr fährt der Bus in Agadir los. Es ist still im Bus. Viele Reisende schlafen oder unterhalten sich leise. Said wiederholt Deutsch-Vokabeln für seine Prüfung, als ca. 70 Kilometer vor Marrakesch plötzlich die Menschen im Bus anfangen laut zu schreien und zu weinen. Sie haben über ihre Handys von dem Erdbeben erfahren. Der Bus ist währenddessen weiter auf der Autobahn Richtung Marrakesch unterwegs, noch ist von dem Erdbeben nichts zu spüren. „Wir alle hatten Angst, fühlten uns völlig hilflos. Wir wussten ja nicht, was auf uns zukommt und konnten nichts machen“, sagt Said. „Es war wie in einem Alptraum. Als wir Marrakesch erreichten, stellten wir fest, dass wir mitten durch das Erdbeben fahren. Die Häuser um uns herum stürzten ein. Gebäudeteile fielen zu Boden. Die Menschen rannten panisch aus ihren Häusern oder aus den Restaurants, in denen sie eben noch zusammensaßen, während es Schutt und Steine regnete.“ 

Stunden voller Angst für seine Verlobte in Deutschland

Während Said in Marrakesch im Bus um sein Leben bangt, erfährt seine Verlobte Debora, die sich in ihrer Heimatstadt Düsseldorf befindet, durch die Medien von dem Erdbeben und versucht Said zu erreichen. Doch die Leitungen sind tot. Das gesamte Stromnetz und alle anderen Netzwerke sind ausgefallen. Auch bei seiner Familie, Eltern und Freunden kommt sie nicht durch. Weit weg in Düsseldorf erlebt sie Stunden voller Angst. „Ich habe wieder und wieder versucht ihn anzurufen. Doch es kam noch nicht einmal ein Freizeichen. Ich habe mir gedacht, muss das ausgerechnet heute passieren? Denn es gab eine lange Vorlaufzeit für den Prüfungstermin. Said hat über vier Monate darauf gewartet“, erzählt Debora.

Nach dem Horrortrip direkt in die Deutschprüfung

Wie durch ein Wunder kann der Bus seine Fahrt unbeschädigt fortsetzen und Said übersteht den größten Horrortrip seines Lebens. In den frühen Morgenstunden erreicht der Bus Rabat, Hauptstadt und Regierungssitz des Landes. Hier scheint alles in Ordnung zu sein. Said muss von der Busstation noch mit dem Taxi zum Goethe-Institut, wo die Prüfgung abgenommen wird. Als er dort um 5.15 Uhr morgens ankommt, ist noch alles geschlossen. Nach und nach treffen weitere Prüflinge aus allen Teilen des Landes ein. Man tauscht sich aus. „Wer weiß was? Wie ist die Lage bei euch?“ Alle sind mit den Nerven am Ende. Keiner weiß, ob die Prüfung tatsächlich stattfinden wird. Doch Said hat extra den ganzen Weg auf sich genommen. Jetzt will er es auch auf jeden Fall durchziehen. „Die Prüfung fand tatsächlich zum vereinbarten Termin statt. Ich war mit meinen Gedanken zwar ganz woanders, bei Debora, bei meiner Familie, bei den Opfern. Dennoch habe ich die Prüfung bestanden“, sagt Said.

Die Erleichterung ist groß

Nach einer durchwachten Nacht erhält Debora in Düsseldorf endlich ein Freizeichen an ihrem Handy und Said ist direkt am Apparat. „Mein Schatz, mach dir keine Sorgen, es ist alles gut. Ich bin unverletzt“, sagt er. „Ich wollte sie keinesfalls verängstigen, habe die Situation etwas heruntergespielt“, meint Said im Nachhinein. „Ich war sehr erleichtert“, erzählt Debora. „Ich habe mir große Sorgen gemacht, aber gehofft und irgendwie auch darauf vertraut, dass alles gut ausgeht.“ Auch Saids Familie und allen Freunden geht es gut. Sie konnten das Erdbeben in Agadir zwar auch spüren, doch dort ist nichts passiert.

Das Ausmaß der Zerstörung

Währenddessen erwacht die Stadt Marrakesch nach dem Erdbeben im Schockzustand. Die Gassen des historischen jüdischen Viertels der Medina sind mit Trümmern übersät, alte Gebäude sind abgesackt. Über 820 Menschen haben ihr Leben verloren. Andere stehen auf der Straße vor den Trümmern ihres alten Lebens. „Marrakesch ist eine wunderschöne Stadt. Hier haben Debora und ich vor kurzem noch einige Tages unseres Urlaubs verbracht“, erinnert sich Said. „Die meisten Todesfälle gibt es in den kleinen Bergdörfern. Manche wurden komplett zerstört“, sagt Said. „Dazu gehören auch zwei Dörfer, die Said und ich noch vor kurzem besucht haben“, erzählt Debora. „Wir sind Hand in Hand verliebt durch die Gassen geschlendert. Gassen, die es heute nicht mehr gibt, sondern nur noch Schutt, Trümmer und Asche.“ In einem Dorf mit dem Namen Tizi-nTest, das an einer bekannten Passtraße liegt, hatten sie ein Erlebnis, das zeigt, wie gastfreundlich und herzlich die Marokkaner sind. „In Marokko wird es schnell dunkel. Wir waren auf dem Weg zu unserem Hotel und hielten an einem Hanut (Marrokanisch für Kiosk), um eine Flasche Wasser zu kaufen und nach dem Weg zu fragen. Said sprach mit einer älteren Frau, die sehr besorgt darüber war, dass wir noch im Dunklen auf den unwegsamen und unbeleuchteten Bergstraßen unterwegs waren. Sie bot uns direkt an, bei ihr zu übernachten. Dieses Dorf gibt es nicht mehr und wir wissen nicht, was aus der freundlichen alten Frau geworden ist“, erzählt Debora. Unzählige andere kleine Bergdörfer wurden ebenfalls durch das Erdbeben zerstört. Viele Familien sind obdachlos geworden und müssen die derzeit kalten Nächte im Freien verbringen. Im Schnitt leben hier rund 180 bis 200 Einwohner, teilweise sind über die Hälfte der Menschen ums Leben gekommen. Weiterhin werden hunderte Menschen vermisst. Die Überlebenden berichten der Deutschen Presse-Agentur zufolge von einem zunehmenden Leichengeruch, der aus den Ruinen ströme. Nach Informationen des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) sind etwa 100.000 Kinder von der Katastrophe betroffen.

Auch schon vor dem Erdbeben waren die Menschen in den Bergdörfern auf regelmäßige Hilfe angewiesen. Saids Vater, Belkacem Oujjir, organisiert jedes Wochenende Hilfslieferungen mit Bekleidung und Nahrungsmitteln aus privaten Spenden, die er selbst in die Dörfer bringt.

„Alle wollen helfen. Ob alt oder jung, ob Touristen oder Marokkaner. Das bewegt mich sehr.“ 

Said Oujjir

Das Erdbeben in Marokko hat vor allem in den kleinen Bergdörfern für Zerstörung gesorgt, tausende Menschen sind gestorben oder haben alles verloren.

„Ich habe mir große Sorgen gemacht, aber gehofft und irgendwie auch darauf vertraut, dass alles gut ausgeht.“

Debora Stender

Das große Beben von Agadir 1960

Niemand hatte mit einer derartigen Tragödie gerechnet. Dabei hätte das Beben von 1960 in der Hafenstadt Agadir ein Hinweis darauf sein können, dass die Region südlich des Atlas nicht erdbebensicher ist. Es war die schwerste Naturkatastrophe in der Geschichte des Landes und forderte fast 15.000 Todesopfer. Said war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren, doch viele ältere Menschen erinnern sich noch mit Schrecken daran. Der Küstenort Agadir wurde völlig zerstört. Fast ein Drittel der damals 50.000 Bewohner kam ums Leben, alle anderen wurden obdachlos. Das Erdbeben gilt als eines der schlimmsten des 20. Jahrhunderts. Dabei wurde es damals als nur mittelstark eingestuft, mit einer Magnitude von 5,8 auf der Richterskala. Weil das Epizentrum direkt unter der Stadt lag, war die Zerstörung so immens. Nach mehreren leichten Beben zuvor kam es am 29. Februar 1960 zum Hauptbeben. Es war der dritte Abend des Ramadan. Alle Menschen waren zu Hause, als die Erde bebte. Abertausende von kleinen Lehmbauten brachen reihenweise ein. Dem Beben folgte ein Tsunami, der für zusätzliche Zerstörung sorgte. 

Schon 1731 war an dieser Stelle die spanische Kolonie Santa Cruz de Aguer durch ein Erdbeben ausgelöscht worden. In Agadir erinnert heute nichts mehr an die Katastrophe von 1960, nur noch Reste der alten Stadtmauer und ein altes Kino sind erhalten geblieben. Die Küstenstadt wurde auf Beschluss des damaligen Königs Mohammed V. etwas weiter südlich neu aufgebaut. 

Nicht umgesetzte Bauvorschriften?

Agadir ist heute neben Fez, Marrakesch und Tanger eine der wichtigsten Touristenmetropolen des Landes und hat fast eine Million Einwohner. Nach der Katastrophe wurden neue Bauvorschriften eingeführt, die für mehr Erdbebensicherheit sorgten. So erhielten alle Gebäude ein Gerüst aus Stahlbeton. Doch in Marrakesch wurden diese Vorschriften anscheinend bis heute nicht umgesetzt. „Die Tragödie von Marrakesch sollte ein neues Zeitalter seismischer Prävention in Ländern wie Marokko oder Algerien einleiten, die beide sehr erdbebengefährdet sind“, schreibt die spanische Tageszeitung „El Mundo“ am Tag nach dem Erdbeben. „Dort müsste mehr Geld in erdbebensichere Infrastruktur fließen.“ Die marokkanische Regierung plant einen Hilfsfonds für die notleidende Bevölkerung einzurichten. Damit sollten unter anderem Kosten zur Absicherung beschädigter Häuser gedeckt werden, berichtete die Nachrichtenseite Hespress unter Berufung auf einen Regierungssprecher. Zur Höhe des Fonds gibt es keine Angaben. Er solle sich aus Geldern öffentlicher Einrichtungen und freiwilliger privater Beiträge zusammensetzen, heißt es.

Auch König Mohammed VI. spendet 1 Million MAD Marokkanischer Dirham (rund 100 Milliarden Dollar) aus seinem Privatvermögen für die Erdbebenopfer. Sein privates Vermögen soll sich auf mehr als zwei Milliarden Euro belaufen. 

Hilfsaktionen im ganzen Land

Noch weiß niemand genau, wie viele Menschen in Marokko ihr Leben verloren haben. Und langsam schwindet die letzte Hoffnung, noch Überlebende unter den Trümmern zu finden. Zum Teil mussten sich die Menschen viele Kilometer weit bis zu einer befahrbaren Straße durchkämpfen, berichtete die französische Zeitung „El País“. Aber die Marokkaner wollen es schaffen und mobilisieren viele Kräfte. Freiwillige Helfer brechen aus allen Teilen des Landes ins Katastrophengebiet auf. Es sind vor allem Privatpersonen, die sich selbst organisieren und auf den Weg zu den Opfern machen. „Alle wollen helfen. Ob alt oder jung, ob Touristen oder Marokkaner. Das bewegt mich sehr“, sagt Said. Mit Lebensmitteln, Wasser und Decken machen sich die Menschen auf den Weg ins Unglücksgebiet. Neben der Suche nach Überlebenden konzentrieren sich die Helfer darauf, die Leute in den entlegenen Dörfern mit Trinkwasser und Nahrungsmitteln zu versorgen. Das ist schwierig, denn viele Zufahrtsstraßen ins Gebirge müssen erst wieder passierbar gemacht werden. „Das Geröll ist bis heute noch in Bewegung und birgt große Gefahren für die Helfer. Einige sind dadurch bereits getötet worden“, berichtet Said. Zudem erschüttern weiterhin Nachbeben das Land. In den Krankenhäusern reichen offenbar die Betten nicht aus: Leichter Verletzte werden schnell wieder entlassen, um Platz für schwerere Fälle zu machen. In Marrakesch wird von langen Schlangen vor Blutspendezentren berichtet.

„Das Geröll ist bis heute noch in Bewegung und birgt große Gefahren für die Helfer. Einige sind dadurch bereits getötet worden.“

Nach dem Erdbeben

Aus Angst vor Nachbeben verbringen auch viele Einwohner, deren Häuser nicht durch die Erdstöße in Mitleidenschaft gezogen worden waren, die Nächte im Freien. Auch Saids Eltern. In Marrakesch eröffnen zwar schon wieder die Basare, aber die Schäden sind noch nicht zu überblicken. In der Nähe des berühmten Platzes „Djemaa el Fna“, auf den sich in der ersten Nacht viele Bewohner gerettet hatten, ist auch die Koutoubia-Moschee aus dem 12. Jahrhundert mit ihrem mehr als 70 Meter hohen Minarett betroffen. Es ist die größte Moschee der Stadt. Selbst die rote Stadtmauer, die jahrhundertelang den Angreifern trotzte, brach angeblich an einigen Stellen ein. Die große Frage ist: Wie geht es weiter? Wie wird der Winter im Atlas-Gebirge, an Orten, an denen es noch nicht einmal fließendes Wasser gibt und die Menschen kein Dach mehr über dem Kopf haben?

Und Said und Debora?

Das schlimmste für Debora ist, dass sie gerade jetzt, in dieser schweren Zeit, nicht zu Said fahren und ihm beistehen kann. Denn sie hat in Düsseldorf gerade eine neue Arbeitsstelle angetreten. Said hat dafür vollstes Verständnis. Er setzt alles daran, so schnell wie möglich zu ihr nach Düsseldorf zu kommen. Doch das ist gar nicht so einfach. Eigentlich benötigt er nur ein Touristenvisum, das er im Konsulat beantragen muss. Doch dafür muss über ein Online-Formular ein Termin vereinbart werden. Die Visa-Termine sind rar und immer direkt wieder ausgebucht. Oft stürzt auch die Buchungsmaske ab. Und wieder vergehen Wochen über Wochen, bis es neue Termine gibt. Said versucht es schon seit über einem Jahr. „Meist weiß man das auch gar nicht, wann es wieder neue Termine gibt“, erläutert Said. Eine fatale Situation. „Auf dem Schwarzmarkt werden Visa-Termine für Preise ab 500,00 Euro gehandelt.  Normalerweise kosten sie nur 25,00 Euro“, sagt Said und ergänzt: „Doch weder kenne ich Leute, die damit handeln, noch möchte ich etwas Illegales machen.“ Eins steht jedoch für ihn fest. „Ich werde niemals aufgeben, denn Debora ist die Frau meines Lebens.“ Gemeinsam haben die beiden schon eine Hilfsaktion geplant. Anfang November, bei Deboras nächstem Besuch, wollen sie mit einem alten Renault Vier, den sie gerade erst verkehrstauglich gemacht haben, Hilfsgüter in die Bergdörfer bringen, die Freunde und Marokkaner, die in Deutschland leben, gesammelt haben.

Alexandra von Hirschfeld

$

Wer diese Aktion unterstützen möchte, kann gerne mit der ZOO:M-Redaktion Kontakt aufnehmen. Einfach eine E-Mail an
avh@zoom-duesseldorf.de senden.

Pin It on Pinterest