Vierundsiebzig
Die Autorin Ronya Othmann will mit ihrem neuen Roman „Vierundsiebzig“ eine Form für das Unaussprechliche finden, den vierundsiebzigsten Genozid, verübt 2014 in Shingal von der Terrormiliz des IS (Islamischer Staat) an der jesidischen Bevölkerung. Darunter ihre Freunde, Bekannten und Verwandten, die in einem kleinen syrischen Dorf nahe der irakischen Grenze lebten. Dort verbrachte sie häufig die Sommerferien bei ihren Großeltern.
Fotos: Michael Gstettenbauer
Nach ihrem Debütroman „Die Sommer“, der mit dem Hamburger Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde, veröffentlichte Ronya Othmann nun ihren zweiten Roman, der prompt mit dem Düsseldorfer Literaturpreis geehrt wurde, einer der wichtigsten und mit 20.000 Euro höchst dotierten Auszeichnungen in der deutschen Literaturszene. „Vierundsiebzig“ ist eine Reise zu den Wurzeln und zu den Tatorten, an denen das Unsagbare geschah. Ronya Othmann besucht die Flüchtlingscamps und Gedenkstätten, reist an die Frontlinien, in verlassene Dörfer, deren Ruinen teilweise wegen nicht geräumter Sprengfallen auch zehn Jahre nach dem Massaker noch immer nicht begehbar sind. Sie blickt den Überlebenden in die Augen, manche sind nur knapp dem Massenmord entkommen. Sie hört ihnen zu, wenn sie von der Terrorherrschaft des IS erzählen und schreibt ihre Geschichten auf. Die Menschen berichten, dass sich auch viele arabische Nachbarn an den Morden beteiligten. Othmann dokumentiert das Massakrieren der Jesiden – sie verwendet die Schreibweise Eziden – im Namen des Islam.
„IS-Kämpfer aus dem Ausland, das waren Zwanzigjährige aus Tschetschenien, China, Deutschland, Saudi-Arabien oder Libyen. Aber das, was uns angetan wurde, geschah mit Hilfe unserer sunnitischen Nachbarn. Sie haben ihnen gesagt: Das sind Eziden, Kuffar, Ungläubige. […] Faris wiederholt das, was alle ständig wiederholen, als könnten sie es immer noch nicht begreifen: Es waren unsere Nachbarn, die uns verraten haben.“ Ronya Othmann, Vierundsiebzig
Weil sie die Zwangsbekehrung zum Islam verweigern, werden sie gnadenlos hingerichtet. Für die Gotteskrieger des „Islamischen Staats“ ist die Tötung von Ungläubigen „halal“ (d. h. übersetzt „erlaubt“ oder „zulässig“). Ganze Dorfgemeinschaften werden ausgelöscht, viele Mädchen und Frauen verschleppt. Es gibt Sklavenmärkte in Rakka und Mossul, auf denen Jesiden verkauft werden.
„Vierundsiebzig“ ist Autobiographie, Biographie, Reisebericht und jesidische Geschichte in einem, ein fünfhundertseitiges Buch, eine Dokumentation des Völkermords und der Versuch, eine Sprache dafür zu finden.
„Vor 2014 kennt man die Eziden in Deutschland nicht. Wenn ich gefragt werde, sage ich: Wir sind Kurden aus Syrien. Nein, wir sind keine Muslime […]. 2014 wissen die Leute, dass es Eziden gibt. In den Schlagzeilen ist von uns zu lesen. Berge, Staub und Menschen, die um ihr Leben rennen. Titelbilder. Tagesschau. Wir werden ermordet.“
Nicht nur der Völkermord an den Jesiden vor zehn Jahren, sondern auch die von Verfolgungen und Massakern geprägte Geschichte der christlichen Glaubensgemeinschaft steht im Fokus von Othmanns Roman. Sie berichtet von grausamen Verfolgungswellen und der Versklavung der Jesiden im 19. Jahrhundert, die als „Teufelsanbeter“ angefeindet wurden. Allein 1832 sollen 12.000 Menschen am Ufer des Tigris ermordet worden sein.
„Fast 6.000 ezidische Frauen und Mädchen […] waren in IS-Gefangenschaft. Nahezu jede wurde vergewaltigt. Bis heute wurde nur die Hälfte aus der Gefangenschaft befreit oder konnte fliehen.“
In München verfolgt Othmann den Prozess gegen die deutsche IS-Anhängerin Jennifer W., die mit ihrem Mann eine jesidische Frau versklavte. Während ihrer Zeit bei der Terrormiliz soll sie zugelassen haben, dass ein fünfjähriges Mädchen angekettet verdurstete. In München wird sie zu zehn Jahren Haft verurteilt. In detailreichen Protokollen erhält man Einblicke in den grausamen Alltag des IS.
Bereits zum 23. Mal verleiht die Kunst- und Kulturstiftung der Stadtsparkasse Düsseldorf den Düsseldorfer Literaturpreis. Dieser zeichnet Autorinnen und Autoren aus, deren deutschsprachiges literarisches Werk inhaltlich oder formal Bezug auf andere Künste nimmt. Die Laudatio hielt Literaturkritiker und Jurymitglied Tobias Lehmkuhl, der in seiner Begründung schreibt:
„In ihrem dokumentarischen Roman „Vierundsiebzig“ erzählt Ronya Othmann auf so eindrucksvolle wie erschütternde Weise vom Völkermord an den Jesiden durch den Islamischen Staat […]. Sie geht ihrer eigenen Herkunftsgeschichte nach, rekonstruiert den Hergang des Genozids in der Shingal-Region, berichtet von jenen, die vertrieben oder in die Sklaverei gezwungen wurden und reist auf den Spuren jenes titelgebenden„74. Ferman“, des 74. Massakers an ihrem Volk selbst in die Türkei und in den Nordirak. Der Kultur der Jesiden,die nicht auf Schrift gründet, hat sie damit ein einzigartiges literarisches Dokument geschenkt […].“
v.l.n.r.: Miriam Koch, Beigeordnete für Kultur und Integration der Landeshauptstadt Düsseldorf, Henrietta Six, Vorstandsmitglied der Stadtsparkasse Düsseldorf, Michael Serrer, ehemaliger Leiter des Literaturbüros NRW und Jurymitglied, Tobias Lehmkuhl, Literaturkritiker und Juymitglied, Ronya Othmann, Preisträgerin, Dr. Stefan Dahm, Vorstandsvorsitzender der Stadtsparkasse Düsseldorf, Dr. Sabine Brenner-Wilczek, Direktorin des Heinrich-Heine-Instituts, Stefan Drzisga, Geschäftsführer der Kunst- und Kulturstiftung der Stadtsparkasse Düsseldorf, Katharina Wettwer, Kuratorin der Kunst- und Kulturstiftung der Stadtsparkasse Düsseldorf
„Ich habe immer gedacht, dass es das Ende ist, wenn der Himmel auf die Erde fällt. Am 3. August 2014 ist der Himmel nicht auf die Erde gefallen, aber trotzdem war es das Ende.“
Bisher wurden zweiundzwanzig Autorinnen und Autoren mit dem Düsseldorfer Literaturpreis ausgezeichnet, darunter: Patrick Roth, Christoph Peters, Thomas Kling, Katharina Hacker, Ulrich Peltzer, Ursula Krechel, Michael Köhlmeier, Marcel Beyer, Marion Poschmann, Emine Sevgi Özdamar und zuletzt Nico Bleutge. Zur festlichen Preisverleihung begrüßte Dr. Stefan Dahm, Vorstandsvorsitzender der Stadtsparkasse Düsseldorf, rund 200 Gäste aus Politik, Wirtschaft, Medien, Kunst und Kultur, die gespannt und erschüttert der Spotlight-Lesung der Autorin lauschten.
Ronya Othmann
Als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-jesidischen Vaters 1993 in München geboren, verfasst Ronya Othmann Lyrik, Prosa und Essays und arbeitet als Journalistin. Sie wurde bereits viele Male ausgezeichnet, unter anderem mit dem Lyrik-Preis des Open Mike, dem MDR-Literaturpreis und dem Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik. Für den Lyrikband „Die Verbrechen“ (2021) erhielt sie den Orphil-Debütpreis, den Förderpreis des Horst-Bienek-Preises sowie den Horst Bingel-Preis 2022. Ein Auszug aus „Vierundsiebzig“ wurde 2019 mit dem Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs ausgezeichnet. Journalistisch trat sie mit Kolumnen in der taz und aktuell in der FAS hervor.