Ein Gespräch mit Rechtsextremismusforscher Prof. Dr. Fabian Virchow über die Radikalisierung der AfD, ihre Wählerschaft – und darüber, was ein Verbot leisten kann und was nicht.
Herr Prof. Virchow, wie sind Sie überhaupt zu Ihrem Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus gekommen?
Anfang der 1980er Jahre habe ich in Hamburg studiert. Damals kamen viele Menschen aus dem Iran nach Deutschland, die vor dem Mullah-Regime geflüchtet waren. Einige davon in meinem Umfeld wurden von Neonazis bedroht und körperlich angegriffen – zum Teil Freunde von mir. Es gab damals noch kaum Unterstützungsstrukturen für Betroffene. Diese Erfahrungen haben mich geprägt und waren der Ausgangspunkt, mich mit rechter Gewalt und Ideologie auseinanderzusetzen. Das Thema begleitet mich nun seit über 40 Jahren.
Gerade wurde die Einstufung der AfD als gesichert rechtsextrem juristisch vorerst ausgesetzt. Hat sich der Verfassungsschutz da verrannt?
Nein. Das ist ein normales juristisches Verfahren. Solange das Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht läuft, setzt das Bundesamt für Verfassungsschutz die Einstufung als „gesichert rechtsextrem“ öffentlich aus. In der Sache jedoch bleibt die Behörde bei ihrer Bewertung. Diese basiert auf einer über 1.000 Seiten starken Analyse mit umfangreichen Zitaten und Belegen aus Reden, Social-Media-Beiträgen und Programmen der Partei. Die bisherigen juristischen Auseinandersetzungen dieser Art hat die AfD verloren – auch diesmal dürfte das Gericht die Einstufung letztlich bestätigen.

„Ein Verbot der AfD wäre ein Schutzmechanismus der Demokratie gegen ihre Feinde.“ Prof. Dr. Fabian Virchow
Fotos: Bernd Obermann
Haben Sie die Studie des Verfassungsschutzes gelesen?
Ich habe Einblick in wesentliche Teile der geleakten Fassung genommen. Aus wissenschaftlicher Sicht halte ich die Herangehensweise und Materialsammlung für sehr gründlich. Es werden zentrale Aussagen führender AfD-Politiker systematisch zusammengetragen und in Bezug zu den Kriterien der Verfassungswidrigkeit gesetzt – darunter Äußerungen zum völkischen Nationalismus, zur Menschenwürde und zum Demokratieverständnis.
Was sind die Ergebnisse der Studie?
Die Analyse dokumentiert u. a. die Idee eines „ethnisch homogenen Volkskörpers“, die Unterscheidung zwischen „Passdeutschen“ und „richtigen Deutschen“ sowie Aussagen, in denen Muslime pauschal als Bedrohung dargestellt werden – unabhängig von individuellem Verhalten. Besonders brisant: Forderungen nach Einschränkung der Religionsfreiheit und pauschale Unterstellungen, wonach allein die bloße Anwesenheit bestimmter Bevölkerungsgruppen eine Gefahr darstelle. All das verletzt klar die Menschenwürde und den Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 1 und 3 des Grundgesetzes.
Was müsste passieren, damit ein Parteienverbot vor dem Bundesverfassungsgericht überhaupt Aussicht auf Erfolg hätte?
Zunächst muss nach Artikel 21 Absatz 2 GG der Antrag von Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung gestellt werden – andere können das nicht. Nach aktueller Rechtsprechung müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Die Partei muss erstens aktiv darauf hinarbeiten, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, zweitens dabei verfassungswidrige Positionen vertreten und drittens eine gewisse Erfolgsaussicht haben. Nach meiner Einschätzung liegen diese Bedingungen im Fall der AfD vor. Politisch fehlt bisher aber der Wille, ein solches Verfahren einzuleiten.
Würden Sie ein Verbot trotzdem befürworten?
Ja. Ein Verbot kann zwar keine Überzeugungen verbieten – das ist nicht seine Aufgabe. Aber es kann eine Organisation aus dem politischen Wettbewerb nehmen, die etwa das Prinzip der Menschenwürde systematisch untergräbt untergräbt. Das Verbot wäre ein Schutzmechanismus der Demokratie gegen ihre Feinde. Entscheidend ist: Ein Verbot darf kein Ersatz für politische Auseinandersetzung sein, sondern muss begleitet werden von Bildungs- und Aufklärungsarbeit. Gerade deshalb wäre es ein notwendiger Schritt – aber eben nicht der einzige.

„Die AfD ist keine Protestpartei mehr, sondern ein systemgefährdender Akteur.“
Darf man AfD-Politiker als Nazis bezeichnen?
Das kommt auf den Kontext an. Für einzelne Funktionäre – wie etwa Björn Höcke – gibt es Urteile, die die Bezeichnung „Faschist“ oder „Nazi“ in bestimmten Zusammenhängen zulassen. Das haben Gerichte so entschieden, weil seine Äußerungen objektiv Bezüge zum Nationalsozialismus aufweisen. Pauschal lässt sich das aber nicht sagen. Wer eine solche Aussage trifft, sollte sehr genau belegen können, worauf sie sich stützt. Grundsätzlich gilt: Die AfD ist aus meiner Sicht eine rechtsextreme Partei – aber keine „Nazi-Partei“ im historischen Sinn.
Wer wählt die AfD? Gibt es typische Milieus?
Die Wählerschaft der AfD ist sehr heterogen. Man findet dort gutverdienende Rechtsanwälte genauso wie Erwerbslose – also kein einheitliches soziales Milieu. Überrepräsentiert sind allerdings Männer im mittleren Alter, besonders aus der unteren bis mittleren Mittelschicht. In Ostdeutschland ist die AfD inzwischen in vielen Regionen eine Art Volkspartei – mit Zuspruch über alle sozialen Gruppen hinweg. Entscheidender als klassische sozioökonomische Merkmale sind oft diffuse Gefühle von Kontrollverlust, Statusangst und der Wunsch nach Stabilität sowie Rassismus. Die Partei verspricht eine Rückkehr zu einem als „normal“ empfundenen Zustand – unabhängig davon, ob dieser real oder nur eingebildet ist.
Wie stark ist die AfD in Düsseldorf?
Bei der Bundestagswahl 2021 lag die AfD in Düsseldorf bei 10,8 Prozent. Bei der Kommunalwahl 2014 kam sie auf rund 3 Prozent. Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass sie sich bei den anstehenden Kommunalwahlen 2025 auf etwa 10 bis 12 Prozent steigern könnte – ein klarer Zugewinn. Bemerkenswert: In Stadtteilen wie Garath oder Reisholz ist das erwartbar, doch auch in wohlhabenden Vierteln wie Grafenberg oder Unterbach erzielt sie überdurchschnittliche Ergebnisse. Dort geht es oft um das Gefühl, Errungenschaften verteidigen zu müssen.
Was bedeutet ihre Präsenz im Stadtrat konkret für die Stadtpolitik?
Mit drei Sitzen im Rat kann die AfD keine politischen Entscheidungen dominieren. Sie nutzt jedoch die Bühne für Anfragen, Anträge und gezielte Provokationen – etwa gegen Geflüchtetenprojekte oder Umweltmaßnahmen. Reale Gestaltungsmacht hat sie derzeit nicht, doch sie erzeugt mediale Aufmerksamkeit und versucht, bestimmte Themen zu besetzen. Wenn sie stärker wird, könnte sie perspektivisch als Mehrheitsbeschafferin in schwierigen Haushaltslagen auftreten – etwa wenn gespart werden muss und es um die Frage geht, ob bei Kultur oder Integration gekürzt wird.
Wie gehen die anderen Fraktionen damit um?
Aktuell herrscht im Düsseldorfer Stadtrat noch eine klare Abgrenzung. Es gibt öffentliche Bekenntnisse, keine Zusammenarbeit mit der AfD einzugehen. Dennoch: Je stärker die AfD wird, desto größer wird der Druck – etwa, wenn sie bei unkritischen Sachthemen zustimmt und so Nähe suggeriert. Das wäre eine Gefahr.
Gibt es in Düsseldorf Strukturen, die ideologisch anschlussfähig sind?
Ja, wie in vielen Universitätsstädten existieren auch hier rechtsnationale Burschenschaften – darunter Mitglieder der „Deutschen Burschenschaft“, die offen deutschnationales und rechtsextremes Gedankengut vertreten. Hinzu kommen Hooligan-Gruppen mit rechtsoffenen Tendenzen sowie neue rechte Jugendnetzwerke wie „Jung & Stark“, die bundesweit mobilisieren. Auch hier ist mit lokalen Ablegern zu rechnen. Solche Szenen sind selten groß – aber gut vernetzt und nicht zu unterschätzen.
Erleben Sie eine zunehmende Radikalisierung im öffentlichen Diskurs – auch in Düsseldorf?
Was gesagt wird, wird rauer, polemischer. Rechte Gewalttaten nehmen zu, auch wenn Düsseldorf im Vergleich zu anderen Großstädten nicht besonders hervorsticht. Auffällig ist aber die gestiegene Sichtbarkeit radikaler Positionen – besonders im Netz oder bei bestimmten lokalen Gruppen und bei den Politikern. Alice Weidel beispielsweise ist eine, die vielfach nur herumpöbelt – egal, wo sie auftritt. Ich glaube, genau das macht sie in der Partei so beliebt. Solche Rhetorik trägt zur weiteren Verrohung bei – nicht nur in der Parteispitze, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung.
Prof. Dr. Fabian Virchow
Prof. Dr. Fabian Virchow leitet an der Hochschule Düsseldorf den Forschungsschwerpunkt „Rechtsextremismus/Neonazismus“. Seit über 40 Jahren beschäftigt er sich mit rechter Gewalt, Ideologien, Netzwerken und politischen Gegenstrategien. Seine Schwerpunkte sind u. a. politische Gewalt, Rassismus, Erinnerungskultur und die Rolle der Zivilgesellschaft im Umgang mit antidemokratischen Tendenzen.