Zur Krise der städtebaulichen Moderne
Wir gehen in die Stadt
Diese Ankündigung hatte, sofern sie an mich adressiert war, in jungen Jahren stets etwas Elektrisierendes. In die Stadt gehen oder fahren zu können, das war willkommene Unterbrechung des Alltags, ein säkulares Gegenstück zum Besuch der Kirche, das versprach begrenzten Ausbruch aus der familiären Routine und die Aussicht auf Neues. Auch wenn man nicht im Rathaus war, kam man – gefühlt – stets schlauer aus der Stadt zurück. Meine persönliche Reminiszenz an den Zauber der Stadt hat freilich eine jahrhundertealte zivilisatorische Vorgeschichte. Einige Schlaglichter daraus sollen die Bedeutung der Städte und ihre aktuelle Problematik beleuchten.
Krise der Stadt?
Zurzeit scheint der Nimbus der Stadt im Schwinden begriffen zu sein. Die Gründe dafür sind so vielfältig wie zahlreich. Die Rede ist von der Verödung der Innenstädte und dem Erlahmen des bürgerschaftlichen Elans, von Digitalisierungs- und Globalisierungsfolgen. Manche Gründe reichen auch weiter in die Vergangenheit zurück. Die Stadt hat als Zentrum der Industrialisierung und als Ziel von Bombenteppichen schon viel von ihrer heimatlich-bergenden Wohnlichkeit verloren. Nach Alexander Mitscherlichs bekannter Diagnose der „Unwirtlichkeit unserer Städte“ haben diese in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch den Ruf der Hospitalität widerstandslos preisgegeben. Eine spezifisch urbane Gast- und Menschenfreundlichkeit gibt es allenfalls noch am Tropf des Profits.
Die DNA der Stadt
Die herausragende Bedeutung der Städte hängt damit zusammen, dass sie – in welchem Zuschnitt auch immer – nicht nur als Zentrum der Machtausübung fungierten, sondern der zivilisatorische Kristallisationskern schlechthin waren. Denn bei aller Unterschiedlichkeit bildete sich in Städten generell eine Civitas aus, eine Bürgerschaft. Die Stadt ist insofern der ureigene Ort dynamischer Vergesellschaftung. Die Zusammensetzung, Ausrichtung und historische Entwicklung dieser Körperschaften waren der Stoff, aus dem urbane Zivilisationen sich aufbauten und über Jahrtausende entwickelten.
In seiner bis heute maßgeblichen Typologie die Städte hat der Soziologe Max Weber das Ensemble von Herrschaftssitz und Markt als Keimzelle der Stadtentwicklung ausgemacht. Das schließt die enorme Unterschiedlichkeit in der Entwicklung von Städten, etwa zwischen weltlicher oder geistlicher Fürstenstadt, Konsumentenstadt, Produzentenstadt, Gewerbestadt, Händlerstadt sowie von globalen Stadtkulturen keineswegs aus, sondern führt das weite Spektrum an Möglichkeiten städtischer Vergesellschaftung vor Augen.
Nach Lewis Mumfords berühmter Universalgeschichte (The City in History) ist die „Totenstadt (…) älter als die Stadt der Lebenden.“ Für ihn „beginnt die Stadt, noch ehe sie fester Wohnort wird, als ein Treffpunkt, zu dem Menschen von Zeit zu Zeit zurückkehren.“ Gesellig zu verkehren, geistige Anregung zu erhalten, offen zu sein für Fremde, Handel zu treiben, Schriftkultur und Wettbewerb, all das sind die Merkmale von Urbanität schlechthin, die DNA der Stadt gewissermaßen.
Helmut Brall-Tuchel
Prof. i. R. Dr. Helmut Brall-Tuchel lehrt Germanistik mit Schwerpunkt Transkulturalität sowie Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zur Literatur- und Kulturgeschichte. Letzte Buchveröffentlichungen: Mit anderen Augen. Düsseldorf aus der Sicht der Welt (2020), Von Christen, Juden und Heiden. Der niederrheinische Orientbericht (2019), Hochzeiten in transkultureller Perspektive (2016), Heimat in Literatur, Sprache und Kunst (2015)
Funktionen und Dysfunktionen
Der Soziologe Richard Sennett (Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds) hat darauf hingewiesen, dass in der antiken Stadt „die Komplexität des Lebens mit den Augen“ zu sehen war, während unsere modernen Städte nur noch wenig über das Leben ihrer Einwohner verraten, es eher verbergen als preisgeben. Seine Kritik der modernen Stadt gilt dem Rückzug ihrer Bewohner ins Private und der Monopolisierung der öffentlichen Räume durch Kommerz und Tourismus.
Der Philosoph und Anthropologe Marcel Hénaff unterscheidet in einem Beitrag aus dem Jahr 2008 (Monument, Stadt, Macht, Lettre International 120) drei Funktionsebenen, deren Zusammenspiel urbane Zivilisation sowohl begründet wie verändert: einmal die „spektakuläre architektonische Realität“ wie etwa Monumente und Mauern, dann die Koordination der sozialen Gruppen und gemeinschaftlichen Ziele sowie die Installierung von „Zirkulations- und Kommunikationskanälen“. Diese Organisationsleistungen zu erbringen und den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen, war die Aufgabe der Stadtgesellschaften seit den geschichtlichen Anfängen der Stadt.
Stadt der Bürger versus Stadt der Widersprüche
Der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger glaubte noch daran, dass die Moderne den weiteren Ausbau der Bürgerstadt und das Selbstverständnis von Bürgerschaft anstreben und realisieren könne. Diese Hoffnung Sternbergers ist zweifellos sympathisch, aber ist sie auch realistisch? Eine aktuellere Diagnose zur Lage der Stadt, eine zugegeben pessimistische Diagnose, stammt von Dieter Hoffmann-Axthelm (Die dritte Stadt), der als Schriftsteller und Stadtplaner in Berlin lebt. Ihm zufolge steht die europäische Stadt der Moderne in der Gefahr, zwischen „Luxusökologie“ (Bionadetrinker und Vielflieger) und „industriellem Wachstum“ zerrieben zu werden. Dieser Prozess werde durch die „Einwanderung der Armutswelten des Südens und des Ostens“ verstärkt. Um die Stadt (und ihre Bewohner) lebensfähig zu halten, bedürfe es eines Umdenkens. Diese „dritte Stadt“ ist ein Projekt, das sich an die antike und die mittelalterliche Stadt anschließen muss: die „postindustrielle Neugründung der Stadt“. Die industrielle Stadt als ungegliederte, ressourcenverbrauchende, gleichzeitig wachsende und zerfallende Siedlungsform habe keine Zukunft.
Daraus ergibt sich die Forderung nach einem Mehr an Stadt, einer besseren Stadt und einem Weniger an Verbrauch und Zerstörung. Die Frage ist nur, wie soll und kann das Projekt politisch und gesellschaftlich angegangen werden?
„Die industrielle Stadt als ungegliederte, ressourcenverbrauchende, gleichzeitig wachsende und zerfallende Siedlungsform hat keine Zukunft.“
Wohlstandswachstum
Die städtebauliche Moderne steckt tief in der Krise, ohne dass ihr dies hinreichend bewusst ist. Demographie, Energiekrise, Zuwanderung, Wohnraummangel und Anwachsen sozialer Brennpunkte sind hier die Stichworte. Gegenmaßnahmen von Bauwirtschaft, Kommunen und Investoren waren die Sanierung von Problemvierteln, die Kommerzialisierung der Stadtmitte, die gerade im Moment an Effektivität zu verlieren scheint, und die Aneignung industrieller Brachen für Ateliers, Lofts, Freizeit und kulturelle Zwecke, Kulturbahnhöfe und Events.
Dabei fehlt es auch heute keineswegs an kritischen Stimmen. Nicht nur Sodom und Gomorrha sind in Verruf geraten. Das Lob des Landlebens und Stadtfeindschaft waren nicht selten die Reaktion auf den Aufstieg, das Wachstum und die zivilisatorische Dynamik von Städten. Ökologie als politische Bewegung beruht für Hoffmann-Axthelm auf einer säkularen Tradition der Stadtfeindschaft, der Industriefeindschaft und der Bevorzugung des Landlebens als einer Lebensform ursprünglicher Naturverbundenheit und Sittenreinheit. In dieser Optik erweist sich die Stadt als Angst-Raum, als Ort von Sünde und Seuche, Überfremdung und Massenelend, Hunger und Not; sie steht da als das Kernübel der Zivilisation.
Nachgefragt und genutzt werden Städte heute als Bühne für die Inszenierung des wirtschaftlichen, des politisch-medialen und des sozialen Lebens. Der Nutzer (engl. User) hat sich an die Stelle des Bewohners geschoben, er steht im Vordergrund und reklamiert die Zentralität, Repräsentativität, Monumentalität und das historisch gewachsene Ambiente des Urbanen für eigene, nicht unbedingt gemeinschaftsdienliche Ziele und Zwecke. Hochbezahlte CEOs blicken aus den Chefetagen auf die umliegenden Konsumtempel und Versicherungspaläste, die Politik gibt neue Monumente in Auftrag, Business beherrscht den zentralen Distrikt. Es verwundert daher nicht, dass auch in der Stadtsoziologie differente, kaum miteinander kompatible Stadtkonzepte diskutiert werden.
Die Stadt als Milieu
Hier lebt die Tradition der Stadtfeindschaft und der Stadtkritik fort. Die Stadt definiert sich nicht mehr als Gemeinschaft der Bürger.
Die Stadt als Betrieb
Dieses Konzept entspricht dem Selbstbild des Bürgertums. Der Bürger sieht sich als Industrieller und Stadtbeamter in Personalunion.
Die Stadt als Staat
Hier wird die Stadt als Kampfplatz der Machteliten gesehen. Verwaltung, Lobbies, Gewerkschaften, Finanzkapital ringen im Einfluss
Die Stadt als Kultur
Die Öko-Stadt, in der das Dorf, die Gemeinschaft in der Stadt zurückgewonnen werden soll. Stadtteilarbeit, Selbstversorgung, Stadtbegrünung, erneuerbare Energie, Parks und Plätze sollen es
„Kann die Stadt von der Lifestyle-Bühne herabsteigen und zu einem neuen, einem grünen, gepflegten, bewohnbaren, bezahlbaren, bergenden, diversen und kulturell vielfältigen Lebensraum mutieren?“
Krise als Diffusion der Interessen
Die moderne Krise der Urbanität setzte ein mit der Industrialisierung und damit einhergehend mit den Hygiene-Problemen, die das 19. Jahrhundert so obsessiv beschäftigten wie die Klimaprobleme das 21. Jahrhundert. Eine andere Urbanität wurde gefordert und unter radikalen sozialen Veränderungen auch durchgesetzt. Einige Stichworte für die heute zu erneuernde, die werdende Stadt sind laut Hénaff (Die Stadt im Werden) die Bildung von communities, „Vizinalität“, d. h. Pflege der Nachbarschaft, Benachbarung statt Anonymität, die Einrichtung von Orten gemeinschaftlichen Lebens (Straßen, Restaurants, Cafés, Geschäfte, locations), die eine Durchlässigkeit des Sozialen fördern und Hierarchien zu überwinden helfen und insoweit eine Gesellschaft der Bürger ermöglichen. Mit dem Anwachsen der Netzwerke im digitalen Zeitalter sieht Hénaff freilich auch die Idee der Stadt, d. h. die überragende Bedeutung der Öffentlichkeit und des öffentlichen Raums infrage gestellt. Deren Funktionen können nicht durch Digitalisierung ersetzt werden, denn die Grundlage von Stadt sind ihm zufolge nicht Recht, Wirtschaft und Politik, sondern „Konnektivität“, also Bindung, Verbindung, Kontakt zu Ort und Territorium, zur Arbeit, zur Praxis, zu gemeinsamen Routinen, zur Nachbarschaft, zu Sitten, Gebräuchen, Gewohnheiten, zur regionalen Sprache und Atmosphäre.
Kann die Stadt der Zukunft sich noch aus dem Sog der Konsumströme befreien und von der Ausrichtung auf pure Profitinteressen lösen? Kann sie von der Lifestyle-Bühne herabsteigen und zu einem neuen, einem grünen, gepflegten, bewohnbaren, bezahlbaren, bergenden, diversen und kulturell vielfältigen Lebensraum mutieren? Beides erscheint mir – abgesehen davon, dass dies ganz sicher erstrebenswert ist – mehr als fraglich. Fast alle wünschen sich eine lebenswerte Stadt, nur gehen die Interessen aller in höchst verschiedene und zum erheblichen Teil in ganz unvereinbare Richtungen. Es ist an der Zeit, die Funktionsweisen und die Defizite unserer Städte genauer zu erkennen und zu benennen. Denn wenn die Kluft zwischen den divergierenden Stadtkonzepten und ihren jeweiligen Trägerschichten immer breiter wird, büßt der Kern der Stadt, die Civitas, an regulativer Kraft ein. Aktivisten aller Couleur stehen in Bereitschaft. Die Stadt ist für sie der beste Platz zur Durchsetzung ihrer absoluten und offensiven Projekte, es geht ihnen folglich darum, ihn auch zu besetzen.
Helmut Brall-Tuchel