Katharina Keller ist eine junge, progressive Künstlerin, die an der Kunstakademie Düsseldorf studiert. Erst vor Kurzem hat sie vom Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen und der Kunst- und Kulturstiftung der Stadtsparkasse Düsseldorf ein Reisestipendium erhalten. Dieses bietet jungen Künstlern und Künstlerinnen die Möglichkeit zu einer Reise, die die weitere Entwicklung ihrer künstlerischen Arbeit unterstützt.
Ausgewählt wurde Katharina Keller neben anderen KünstlerInnen während des diesjährigen Rundgangs der Kunstakademie Düsseldorf. Wir wollten
ein bisschen mehr über die Künstlerin und ihr Werk erfahren. In unserer Rubrik „Zehn Fragen an …“ gibt sie uns einen Einblick in ihr Schaffen.
1. Welchen Stellenwert nimmt Kunst in Ihrem Leben ein? Für mich ist es eine existentielle Notwendigkeit in der Bewegung der Kunst zu leben und Kunst zu machen. Es ist ein ständiges sich selbst auflösen, um sich mit dem Begegnenden zu verbinden und so Fragen zu lösen, die für mich in meiner spezifischen Bewegung als Körper entstehen, solche Fragen beschäftigen mich immer und diese Dinge sichtbar oder zugänglich zu machen, ist ein Teil dieser Beschäftigung. Es ist auch ein Loslassen der Werke, um ausgehend von den Werken in weitere Verbindungen zu gehen. So entstehen immer wieder neue Verbindungsmuster und die Kunst wächst für mich mit jedem Werk tief und plastisch in mein Leben hinein, so dass für mich zum heutigen Zeitpunkt keine Trennung zwischen Kunst und Leben mehr möglich ist. Kunst ist für mich lebenserhaltend, meine Verbindung zu unserer gemeinsamen Wirklichkeit, in welcher wir uns begegnen.
2. Welche künstlerischen Vorbilder haben Sie am meisten beeinflusst? Es sind immer ganz bestimmte Ausstellungen, Werke oder Texte, die mir aus den unterschiedlichsten Gründen wichtig sind, es ist weniger eine Beeinflussung. Zum Beispiel die Ausstellung „ERNSTE SPIELE“ von Harun Farocki im Hamburger Bahnhof. Harun Farocki ist während der Laufzeit dieser Ausstellung verstorben. Zu diesem Zeitpunkt habe ich mich intensiv mit seiner Arbeit auseinandergesetzt und sein Werk hat mich sehr bewegt. Dieser Masse an Werken von ihm zu diesem Zeitpunkt im Hamburger Bahnhof zu begegnen war unerwartet und eine wichtige Erfahrung für mich.
Eine Ausstellung, die ich erst vor kurzem gesehen habe, „Mother Tounge“ von Camille Henrot in der Kestnergesellschaft, hat mich ebenfalls überwältigt und zwar so sehr, dass ich mehrfach dort gewesen bin. Eine Freundin hat im letzten Jahr ihr erstes Kind bekommen und es ist die erste Schwangerschaft im Freundeskreis, die ich bewusst und nah miterlebt habe. Die Werke von Camille Henrot waren für mich wie eine Öffnung in das Innere dessen, was ich in dieser Zeit von Außen begleitet habe. Aber auch ihr Film „Saturday“, welcher in der Ausstellung gezeigt worden ist, ist für mich ein wichtiges Werk, weil er medial und inhaltlich Themen aufgreift, die mich immer und immer wieder beschäftigen. Ich will nichts vorwegnehmen und empfehle den Film zu schauen, wenn es eine Möglichkeit dafür gibt.
Meine Leseroutine beeinflusst mich mehr, aktuell beschäftige ich mich mit den Gedichten von Joseph Brodsky, lese immer wieder Édouard Glissant, Donna Haraway, Timothy Morton, Watsuji Tetsurō, Frédérique de Vignemont, Jane Bennett, Catherine Malabou und viele mehr. Ich würde auch eher sagen, dass meine Lebenswirklichkeit mich beeinflusst, sie beeinflusst, welche Werke mein Interesse erwecken.
siberian brutalism, 2018- fortlaufend, Beton, Stahl, Benzinduft, Licht in der Farbe meines Geburtshauses, Uchilishchnaya Ulitsa 27, Omsk, 385 Objekte, Maße variabel
Mein künstlerisches Archiv besteht aus materialisierten Gedanken und immateriellen Denkräumen, in denen sich Prozesse einer Idee bewegen, verbinden, expandieren, anstauen, verschwinden und wieder in einer neuen Form auftauchen können. Es ist ein Zwischenraum zwischen dem Kontext, in welchen ich eine Arbeit setze und der Imagination einer sich formenden Idee.
Siberian brutalism ist eine Arbeit, in der ich einen Teil meines Archivs zu der Verortung und Verwendung von Ornamenten in der Holzarchitektur Sibiriens offenlege und in einen räumlichen Bezug zu der Ausstellungsarchitektur setze. Das Ornament wird in der sibirischen Tradition an der Architektur und der Kleidung dort angebracht, wo das „Innen nach Außen“ tritt. Dieses Prinzip der ornamentalen Setzung findet man trotz großer Abstände quer über den gesamten geographischen Raum der Taiga, an Säumen traditioneller Kleidung, Türen, Fenstern und an Dächern. Die Ornamentik wird stark von der Region beeinflusst, so findet man je näher man sich an der Grenze zur Mongolei oder China bewegt, Einflüsse aus der Ornamentik der jeweiligen Region (Drachenornamente, komplexe Lotusblüten etc.). Der Prozess des Archivierens ist für mich ein Zusammenziehen der Orte und Formen, ihrer Bezüge von einem regionalen zu einem globalen Zusammenhang und umgekehrt.
Das Werk ist ein sich zu einer eigenen am sow- jetischen Brutalismus orientierten Architektur aufbauendes Archiv der Ornamente aus den Städten Kazan, Omsk, Novosibirsk, Blagoweschtschensk, Listwjanka, Ulan-Ude, Iwolginsk, Tomsk, Irkutsk,Barnaul und Chabarovsk.
3. Welche anderen Berufe wären auch für Sie in Frage gekommen? Kein anderer, ich kann mich für viele andere Berufe begeistern, besonders für GeologInnen, weiß aber auch, dass dieses Interesse aus meinem künstlerischen Prozess kommt. Das besondere am Künstlerin sein ist, dass man immer interdisziplinär arbeiten kann.
4. Was brauchen Sie, um schöpferisch tätig zu sein? Es hängt immer von meiner Tagesform ab, ich arbeite auch gerne gegen meinen Willen, der schöpferische Prozess hat ein Eigenleben in meinem Körper und die wechselseitige Beeinflussung von Spannung und Loslassen können ein starker Katalysator für meinen schöpferischen Prozess sein. Jedes Werk hat ein eigenes Bedürfnis und braucht einen eigenen Prozess, ich orientiere mich meist am Werk. Mal brauche ich eine gewisse Isoliertheit, mal eine komplette Auflösung in der Masse und im Alltag, manchmal muss ich meinen Lebensmittelpunkt verlassen, um meine Gedanken zu beobachten und Veränderungen zuzulassen. Meist trifft es mich aber in alltäglichen Situationen und über das Schreiben.
5. Worauf legen Sie momentan Ihren künstlerischen Schwerpunkt? Meine Arbeitsweise ist zum großen Teil von meiner Bewegung als postmigrantischer Körper bestimmt, jedes Werk ist ein Innehalten in der gesamtheitlichen Bewegung meines Lebens, eine Verdichtung von Entscheidungen, die ich mit Orten, Lebewesen, Materialien und Objekten eingehe, „speculative fabulation“ im Haraway‘schen Sinne. Sie verhält sich wie eine eigene Enzyklopädie, die fortlaufend mit meiner Bewegung und Praxis wächst.
6. Woran arbeiten Sie gerade? Ich arbeite parallel immer an unterschiedlichen Werken, aktuell plane ich meine nächste Forschungsreise und arbeite an Texten für ein Buch, welches ich mit zwei befreundeten Künstlerinnen publizieren möchte. Ansonsten viele neue Stoffarbeiten, Texte, Videos und neue Raumkonzepte für meine Archive.
7. Welches Kunstmuseum würden Sie gerne leiten? Für mich ist das interessanteste Museum die Moskauer Metro, es braucht keine Leitung. So viele Menschenleben in einer gemeinsamen Bewegung mit den unterschiedlichsten Materialien, eingebettet in die Schnelligkeit der Züge. Die hier entstehenden Formen und Geräusche, in den immer wechselnden Architekturen der Stationen aus einer anderen Zeit und der Gegenwart, das fasziniert mich.
Werg, 2016,
3 Kanal Videoinstallation, Loop 16,44‘,
Maße variabel
Werg ist ein Nebenprodukt bei der Leinenherstellung. Es wird dafür verwendet, um Häuser abzudämmen. Mit dem Häuserbau erschaffen sich Menschen Lebensräume nach der vermeintlich eigenen Vorstellung. Orte und Ressourcen bestimmen die Umsetzung. Eine Familie in Omsk setzt die Idee ihres persönlichen Lebensraumes in die Tat um. Spielerisch flexible Überschneidungen zwischen Imagination und Umsetzung lassen ein diverses System entstehen, welches sich ständig ausdehnt und schrumpft. Das Haus hat seinen eigenen Puls. Die Imagination scheint ein Gerüst der geplanten Architektur zu sein, doch der Bauprozess geht über jede Wand und Entscheidung hinaus. Die Plastizität der Imagination kann gegebene Strukturen auflösen und als eigene Lebensform agieren, sie durchdringt und interagiert mit dem Menschen in einer ständigen Bewegung.
8. Düsseldorf hat eine lebendige Kunstszene, womit sind Sie zufrieden, und wo wünschen Sie sich Veränderungen? Ich gehe selten zu Eröffnungen oder Veranstaltungen, die meiste Zeit verbringe ich mit meiner künstlerischen Arbeit oder ich jobbe, dafür eignet sich Düsseldorf gut. Wenn ich mir etwas anschaue, bin ich meist zufrieden, aber das hängt eher mit meinem Umfeld als mit einer Szene zusammen. Ich fühle mich sehr wohl in Düsseldorf, mag auch die Nähe zu Köln und den Städten im Ruhrgebiet. Es hat viele Vorteile in NRW zu sein und man hat auch immer die Möglichkeit sich in den Zug zu setzen und in größere Städte im Ausland zu fahren, um sich dort Kunst anzuschauen. Hier kann ich mich gut auf meine Arbeit konzentrieren, für meinen aktuellen Lebensabschnitt ist Düsseldorf optimal.
9. Welche Rolle wird die Kunst Ihrer Meinung nach im digitalen Zeitalter einnehmen? Ich bin aus einer Generation, die keine Zeit der Kunst ohne ein „digitales Zeitalter“ erlebt hat. Meine Vorstellungen darüber, wie unsere gemeinsame Zukunft aussehen könnte, wechselt ständig, sie hängt von vielen Faktoren, globalen und ganzheitlichen Prozessen ab, die unvorhersehbar sind. Ich möchte keine Prognosen aus meinen Beobachtungen machen und die Frage offen lassen.
10. Wie hat die Coronakrise Sie und Ihr künstlerisches Schaffen beeinflusst? Dadurch dass Europa und Russland sich gegenseitig bisher die Impfstoffe nicht anerkennen ist meine Forschungsarbeit erschwert. Ich denke es ist noch zu früh zu sagen, ob und wie mich die Pandemie beeinflusst hat.
Alexandra von Hirschfeld