Wie weit sollte die Unterstützung für kriegsführende Parteien gehen? Über diese Frage ist eine gesellschaftliche Debatte entbrannt, die zwei Lager erkennen lässt. Während die Medienlandschaft überwiegend für eine weitgehende Unterstützung der angegriffenen Ukraine plädiert, kommt von Philosophen, Publizisten und einigen Politikern die Mahnung, auch den Frieden wieder stärker ins Blickfeld der politischen Akteure zu rücken. Unser Gastautor Prof. Dr. Helmut Brall-Tuchel zeigt beim Blick in die Geschichte, wie kompliziert es war, dem Frieden einen Platz hier auf Erden zu geben und dass er das Resultat eines langen zivilisatorischen Prozesses ist, den wir womöglich gerade aufs Spiel setzen.

Auch um den Frieden zwischen den Geschlechtern ist es seit der Vertreibung der Menschen aus dem Paradies nicht gut bestellt. 

Über den Frieden

Am Frieden sind schon viele Dichter und Denker verzweifelt, das Gespräch über ihn verstummt im Lärm der Waffen schnell. Über den Krieg hingegen tauscht man sich aus – er war und bleibt ein Medienereignis ersten Ranges. Denn Zwietracht und Feindschaft mit all ihren Aktionen eignen sich bestens als Erzählungen von geschichtsbildender Schubkraft. 

Schon Herodot, dem „Vater der Geschichte“, war wichtig, dass die Nachwelt in Erinnerung behalte, was die Ursachen gewesen seien, „weshalb sie (die Hellenen und die Barbaren) gegeneinander Kriege führten“. Herodots Erforschung der Ursachen förderte dann unterschiedliche Erzählungen und Schuldzuweisungen über den Anlass von Kriegen zu Tage. Es  wurde seitdem zum Stereotyp, dass an Kriegen immer die anderen, nämlich die Feinde, die Schuld tragen. 

In der Antike galt der Raub der Frauen – seien es die Nymphe Io, Europa oder die noch bekanntere Helena – häufig als Auslöser für Verfeindung und Kriegszüge. An die Stelle des Frauenraubs ist in unseren Zeiten der Verlust von „Größe“ in Form von Macht, Reichtum, Einfluss und Sicherheit getreten. 

Friede auf Erden – eine Utopie?

Der Friede sei ein Endziel der Geschichte und hier auf Erden nicht zu erreichen. Diese pessimistische Ansicht vertrat der Kirchenlehrer Augustinus in seinem epochalen Werk über den „Gottesstaat“. Friede im ewigen Leben und ewiges Leben im Frieden, das waren seine christlichen Antworten auf die Wirren seiner Zeit mitten im Niedergang des römischen Imperiums. 

Wir verdanken dem Kirchenlehrer allerdings eine sehr lehrreiche Aufwertung und Differenzierung des Friedensbegriffs. Zwar vertrat er die These, dass Ungerechtigkeit den Weisen zu gerechter Kriegsführung zwinge, aber der Friede sei doch dasjenige, was alle wollten und erstrebten, ja: „Mit Friedensabsicht werden also auch die Kriege geführt.“ Nicht pure Kriegslust, sondern der Hass auf die ungerechten Verhältnisse führe zum Bruch des Friedens. Doch will jeder (nur) den Frieden, der ihm zusagt. Frieden ja, aber nur zu meinen Bedingungen, so tönt es in jeder Kriegspartei.

Augustinus sah den Frieden umstellt von Wünschen, Zielen, Absichten, Befürchtungen, Ungerechtigkeiten und Übeln aller Art wie Elend, Unfreiheit, Unterdrückung, Ungleichheit und Unrecht. Die Instrumentalisierbarkeit des Friedensbegriffs für jeden Zweck machte der Bischof von Hippo in einem bedenkenswerten Satz klar: „Sogar die Räuber wollen mit ihren Spießgesellen Frieden haben.“ Diesem äußerst relativen Friedensbegriff hält er einen universalen und jenseitsbezogenen Begriff vom „ewigen Frieden“ als einem Fernziel entgegen. Der Funke der Friedenshoffnung leuchtete für ihn nur am Horizont. Doch ist der Friede dem Krieg und der Gewalt stets ein Stück voraus, da er und nur er an der göttlichen Ordnung festhält und partizipiert, während der Unfriede sich luziferisch dagegen auflehnt.

„Mit  Friedensabsicht werden also auch die  Kriege geführt.“ 

Augustinus

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Helmut Brall-Tuchel

Prof. i. R. Dr. Helmut Brall-Tuchel lehrt Germanistik mit Schwerpunkt Transkulturalität sowie Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zur Literatur- und Kulturgeschichte. Letzte Buchveröffentlichungen: Mit anderen Augen. Düsseldorf aus der Sicht der Welt (2020), Von Christen, Juden und Heiden. Der niederrheinische Orientbericht (2019), Hochzeiten in transkultureller Perspektive (2016), Heimat in Literatur, Sprache und Kunst (2015)

Krieg ist männlich

Die erste namentlich bekannte deutsche Dichterin, die Äbtissin Roswitha von Gandersheim, wollte es ausdrücklich den Männern überlassen, kriegerische Ereignisse zu schildern und wandte sich in ihren Werken lieber anderen Versuchungen und Freuden der christlichen Lebensführung zu. Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich brachte ein Jahrtausend später in einem Beitrag für die Zeitschrift „Emma“ (März 2001) diese unterschiedliche Haltung der Geschlechter auf den Punkt: „Krieg ist männlich.“ Sie betrachtete die Berliner Republik schon damals als eine „untadelige, kriegskompatible Verbündete.“ Aber verhilft uns der Hinweis auf ungezügeltes männliches Triebgeschehen wirklich zu mehr Einsichten über den Frieden?

Auch um den Frieden zwischen den Geschlechtern ist es seit der Vertreibung der Menschen aus dem Paradies nicht gut bestellt. Doch hat man sich immer wieder um friedliche Lösungen bemüht. Im europäischen Mittelalter führte dies u. a. zur teilweisen Separierung der Geschlechter in eigenen Gemeinschaften und zu einer Vielzahl von Männer- und Frauenbünden mit eigener Ordnung und eigenen Gewohnheiten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war die Aufteilung von Kirchen- und Schulraum nach Geschlechterzugehörigkeit eine Selbstverständlichkeit. Mit der Einebnung der Geschlechterunterschiede in der Neuzeit ging auch die Ausdünnung vieler kulturtragender Zugehörigkeiten einher, die – was leicht übersehen wird – immer auch eine Beziehung zum Frieden stifteten und über seine Wahrung wachten.

Der Friede gedeiht von unten

Fundamente des Friedens wurden und werden gleichwohl auf dieser Ebene gelegt: im so genannten Gottesfrieden des Mittelalters, im Landfrieden der Regionen, im häuslichen Frieden, in der Friedenspflicht, im Schul- und Betriebsfrieden und vielen anderen Bereichen mehr. Frieden baut sich von unten auf. Im Alltag, in der Lebensführung, in der Erfahrung von Eintracht, in der Gemeinschaft und durch die Bindungen an Menschen und Orte gewinnt er an Stabilität. Je weniger gesellschaftlicher Zusammenhalt auf diesen Fundamenten errichtet wird, umso anfälliger werden Gesellschaften und ihre Mitglieder für jenes ungezügelte Triebgeschehen, das nur noch die momentane Befindlichkeit, die aufflammende Empörung und die eigene Weltsicht kennt, aber kein Vorher und Nachher gelten lässt. Der Soziologe Roger Caillois deutete den Krieg folgerichtig als Exzess, gleichsam als Karneval der Militaristen, bei dem die Zivilgesellschaft und ihre Regeln aus den Angeln gehoben werden.

 „Sogar die Räuber wollen mit ihren Spießgesellen Frieden haben.“

Augustinus 

„Süß ist der Krieg für die Unerfahrenen“

Der berühmte Humanist Erasmus von Rotterdam lernte auf seinen zahlreichen Reisen die Vorteile und den Wohlstand funktionierender Zivilgesellschaften vor allem in den rheinischen Städten kennen und schätzen. In seinen an das gebildete Publikum der christlichen Gesellschaft Europas gerichteten Reden geißelt er den Krieg als gottlos und entwürdigend. In seiner „Klage des Friedens“ erhebt die Personifikation des Friedens (die pax) ihre Stimme und stellt ihren Wert und ihren Status über den aller anderen Mächte, über das Militär, die Nation und alle sonstigen Bindungen. Nur denen, die den Krieg nicht kennen – Erasmus nennt sie „inexperti“ (Unerfahrene) – nur denen mag in Abwandlung eines anderen geflügelten Wortes das Kriegsgeschehen „dulce“ (süß) schmecken.

 

Friede als politische Aufgabe

Erst mit der Etablierung neuzeitlicher Staatlichkeit wird der Friede auch zur verfassungsmäßigen Aufgabe der Politik. Für Immanuel Kant, den kritischen Vordenker politischer Ideen, ist Friede, sofern er überhaupt dauerhaft sein kann, aus zwei Wurzeln zu begründen und zu begreifen: Einerseits vom Menschenrecht her, das verbietet, den Menschen als Mittel zum Zweck zu missbrauchen. „Das Recht des Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es noch so große Aufopferung kosten“. Alle noch so hohen Werte wie Freiheit, Demokratie, Wohlstand etc. müssen vor diesem „Menschenrecht“ zurückstehen. 

Die zweite Wurzel des Friedens ist der von Kant so genannte „völkerrechtliche Vertrag“, also eine Selbstbindung der Staaten durch Vertrag (und nicht durch Verwandtschaft oder Gruppenzugehörigkeit). Das sei die rationale, vernunftgesteuerte Form von Selbstbindung und -verpflichtung. Mit seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ erarbeitet Kant die notwendigen Bedingungen für dessen Realisierung in Staaten mit republikanischer Verfassung. Der Königsberger Philosoph sieht den ewigen Frieden als Resultat eines langen zivilisatorischen Prozesses und nicht wie der Kirchenlehrer Augustinus als Fernziel am Ende der Geschichte. 

 

Für welchen Zielpunkt wollen wir uns entscheiden?

Der Zweifel am Frieden hat in unserem Land zurzeit wieder die Oberhand. Wollen wir ihn wieder an das Ende der Geschichte, wann und wie immer das sein mag, verlagern oder wollen wir ihn von unten und auf der Ebene der Politik mit all unseren Kräften befördern? Diese Entscheidung nimmt uns keiner ab. Das Denken in Kategorien von Sieg und Niederlage hilft keinem weiter. Die philosophisch anmutende Unterscheidung zwischen der Formulierung „den Krieg nicht verlieren dürfen“ und „den Krieg gewinnen müssen“ beugt sich dem Diktat der Militanz. 

Angesichts der Realität des Krieges und den hierzulande erhobenen Forderungen nach seiner Ausweitung und Verschärfung muss solches Gerede mit Erasmus von Rotterdam tatsächlich den „inexpertis“, den wirklich Unerfahrenen, zur Last gelegt werden.

 

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