Wie ist es, als Sohn eines von den Nazis verfolgten Vaters zwischen den Enkeln von Tätern aufzuwachsen? In seinem Erstlingswerk „Spur und Abweg“ stellt Kurt Tallert sich der Verfolgungsgeschichte seiner Familie.

In der Reihe „Geschichten mit Rheinblick“, initiiert vom Haus der Geschichte NRW, stellte Kurt Tallert im Bilker Bunker sein neues Buch vor, sprach mit der Moderatorin, Journalistin und Autorin Rebecca Link über die Vergangenheit seiner Vorfahren und deren Einfluss auf seine eigene Identität. Parallel zur Lesung eindrücklicher Passagen aus seinem Werk, intonierte der Rapper Kurt Tallert, der auch als „Retrogott“ in der deutschen Rapszene bekannt ist, thematische verwandte Songs.

Kurt Tallert alias Rapper Retrogott im Bilker Bunker. Fotos: Bernd Obermann

„Dass der Krieg besonders für meinen Vater ein Thema war, musste in Gesprächsfetzen bereits früh zu mir durchgedrungen sein (…). Den ersten Weltkrieg verband ich mit meinem Großvater als jungem Soldaten, den Zweiten mit meinem Vater als verängstigtem Kind. All dem gemein war die Ahnung, dass ein sinnloses Blutvergießen unter mehr oder weniger den eigenen Leuten immer wieder vorkommen konnte.“ Aus Spur und Abweg, Kurt Tallert

Dass in seiner Familie etwas anders ist, merkt Kurt Tallert bereits in frühester Kindheit im behüteten Bad Honnef. Seien es kaum wahrnehmbare Schwingungen zu gewissen Anlässen, der siebenarmige Leuchter im Arbeitszimmer von Vater Harry, oder auch dessen bisweilen schwieriges Naturell. Schon als Schüler muss Kurt Tallert erfahren: Was für große Teile seiner Generation Schulbuchvergangenheit ist, ist für ihn lebendig, zum Greifen nah, die Geschichte seines Vaters. Eines Vaters, der nach der Befreiung in Deutschland bleibt, Journalist wird und Mitglied des Bundestags. Und der doch ein Leben lang seinen Platz sucht. In „Spur und Abweg“ trifft Vergangenheit auf Gegenwart, Überliefertes auf Verdrängtes, Erlebtes auf Erinnertes, erzählt Kurt Tallert in unverwechselbarem Ton die Geschichte seines Vaters – und seine eigene.

Außerdem bedient er sich des geistigen Nachlasses von Vater Harry. Dessen Notizen, Briefe, Gedichte und Tonbandaufnahmen zeugen von kolossaler Existenzangst und der Unfähigkeit, das erlebte Grauen zu begreifen.

„Die Einteilung der Menschen in Täter und Opfer und die gleichzeitige Einsicht in die phänomenologische Fragwürdigkeit einer solchen Einteilung ließen meinen Vater zu einer Zeit über die gesamte Menschheit stolpern, in der er eigentlich erstmal eine Person hätte werden sollen.“ Aus Spur und Abweg, Kurt Tallert

„Spur und Abweg“ ist auch eine bewegende Annäherung an einen geliebten Menschen. Um mehr über seine Familie väterlicherseits zu erfahren, von denen einige in der Shoah ermordet wurden, reist Tallert durch Deutschland bis ins Konzentrationslager Theresienstadt nach Tschechien, wo sein jüdischer Großvater einsaß und entgegen jeder Wahrscheinlichkeit überlebte.

Tallert spricht mit Menschen vor Ort, korrespondiert mit entfernten Familienmitgliedern, bemüht eigene Erfahrungen, zieht Fachliteratur heran und reflektiert auf seine eigene unnachahmlich assoziative Weise. Der Rap-Musiker Kurt Tallert erweist sich auch im Buchformat als Wortakrobat, der sich erfolgreich Klischees und Denkroutinen widersetzt. Er hat ein Auge für Details. Im Abnormen, Abwegigen findet er überraschende Antworten.

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Kurt Tallert

wurde 1986 in Bad Honnef geboren und studierte Germanistik und Hispanistik in Aachen und Santiago de Chile. Unter dem Künstlernamen „Retrogott“ prägt er als Rapper, DJ und Produzent seit mehr als zwanzig Jahren die deutsche Hip-Hop-Szene und veröffentlichte zahlreiche Alben. „Spur und Abweg“ ist sein schriftstellerisches Debüt.

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