Die unsichtbare Männer-Krankheit

Im Gespräch mit Priv.-Doz. Dr. Jörn H. Witt über die Behandlung einer vergrößerten Prostata

Männliche Geschlechtsorgane führen außer in einschlägigen Videos und Filmen eher ein Schattendasein. Das gilt insbesondere für die inneren Geschlechtsorgane, zu denen neben Hoden, Nebenhoden, Samenleiter und Samenblasen die Prostata gehört. Die Vorsteherdrüse, die bei einem gesunden Mann ungefähr die Größe und das Volumen einer Kastanie hat und ca. 20 Gramm wiegt, wächst oft im Alter und lässt den Gang zur Toilette beschwerlich werden. Privatdozent Dr. Jörn H. Witt ist Facharzt für Urologie und Spezielle Urologische Chirurgie und seit April Klinikdirektor der Paracelsus-Klinik in Düsseldorf-Golzheim. Wir besuchten ihn, um mehr über das Organ und die Behandlungsmöglichkeiten zu erfahren. 

Gutartige Prostatavergrößerungen gehören zu den häufigsten Krankheiten bei Männern. An der so genannten Benignen Prostatahyperplasie (BPH) erkranken ca. 20 Prozent der Männer zwischen 50 und 59 Jahren und bis zu 70 Prozent der über 70-jährigen Männer. Prostatakrebs ist das häufigste Karzinom. Pro Jahr werden nach Angaben des Robert Koch-Instituts bundesweit etwa 63.400 Neuerkrankungen diagnostiziert. Mit 84 Betten ist die Paracelsus-Klinik die größte urologische Fachklinik in Deutschland. Sind Sie deshalb mit 63 Jahren nach Düsseldorf gekommen?

Jörn Witt: Die Aufgabe hat mich sehr gereizt. Vorher war ich 20 Jahre lang Chefarzt für Urologie, Kinderurologie und Urologische Onkologie im St. Antonius-Hospital in Gronau, dem Akademischen Lehrkrankenhaus der Universität Münster. Da gab es für mich keine berufliche Weiterentwicklung mehr. Ich habe dann drei Monate als Chefarzt für Roboter Chirurgie in Köln gearbeitet, dann kam die Anfrage aus Düsseldorf.

Und seitdem hat Düsseldorf einen Mediziner, der ein Meister seines Fachs ist, weil er die Entfernung der Prostata, die roboterassistierte radikale Prostatektomie, bekannt als da Vinci, erfunden hat?

Jörn Witt: (lacht) Nein, das war ich nicht. Aber ich habe mich über roboterassistierte radikale Prostatektomie, also über den da Vinci-Roboter, an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vor drei Jahren habilitiert. 

Gut, wer war es dann?

Jörn Witt: Die Idee, einen Roboter in der Chirurgie einzusetzen stammt aus Amerika. Die Idee dahinter ist leider nicht so schön. Das US-Militär hatte Geld in die Entwicklung von Operations-Robotern gesteckt. Der Operateur sollte über eine Datenverbindung in Krisengebieten operieren. Das hat aber nicht funktioniert. Dann hatte man die Idee, das minimalinvasive, endoskopische Operieren mit einem Roboter in der Kardiochirurgie für Bypässe einzusetzen, um nicht den ganzen Brustkorb zu eröffnen. Das hat sich nicht durchgesetzt. Dann hat ein Amerikaner die Technik im Bereich der Prostatachirurgie weiterentwickelt. Das habe ich mitbekommen und bin 2004 nach Amerika geflogen und habe den da Vinci nach Deutschland gebracht. 

„Als ein Kollege nach einem Eingriff dem Patienten sagte: Sie haben eine Benigne Prostatahyperplasie und dieser dachte, dass sein letztes Stündlein geschlagen habe, war das ein Schlüsselmoment für mich. Ich möchte, dass meine Patienten mich verstehen.“ 

Wie haben Sie als Pionier den Umgang mit da Vinci erlernt?

Jörn Witt: Der Roboter ist ein Werkzeug und ein Werkzeug ist so gut wie derjenige, der es zu bedienen weiß. Ich bin damals zur Ausbildung nach Stockholm zu einem Kollegen geflogen. Aber vorher habe ich meine Frau zum Metzger geschickt, um Schweineblasen mit Prostata zu besorgen. Dann habe ich zusammen mit meinem Sohn im Keller trainiert, wie man mit da Vinci arbeitet. Die Medizinier heute haben es einfacher. In einem ersten Modul arbeiten sie mit einem Simulator, dann an Modellen, dann an Tierkadavern. Am Ende der Ausbildung wird der Eingriff zusammen mit einem Operateur an einer Dualkonsole durchgeführt. Das müssen Sie sich dann ein bisschen wie in der Fahrstunde vorstellen.

Wie viele da Vinci-Operationen gehen auf Ihr Konto?

Jörn Witt: Zusammen mit meinem Team in Gronau habe ich zwischen 2006 und 2021 rund 20.000 roboterassistierte Operationen durchgeführt. Ich alleine habe ca. 10.000 Operationen mit da Vinci durchgeführt, davon über 8.000 an der Prostata. Der Eingriff selbst dauert üblicherweise circa zwei Stunden

Muss man immer operieren? 

Jörn Witt: Manche gutartigen Vergrößerungen der Prostata lassen sich sehr gut medikamentös behandeln. Muss man doch operieren, gibt es verschiedene Möglichkeiten: man kann offen operieren, durch die Harnröhre ausschälen oder mit Laser behandeln. Alternativ und besonders bei großen Drüsen kann auch die gutartige Vergrößerung mit Roboterassistenz operiert werden. Relativ neu ist ein Verfahren, bei dem Wasserdampf in die Prostata injiziert wird, das so genannte Rezum-Verfahren. Dieses Verfahren funktioniert in der Regel bei einem Prostatavolumen von 30 bis 80 Millilitern. Bei größeren Drüsen braucht man mehr Injektionen. 

Wird die Methode da Vinci weiterentwickelt?

Ja, es wird auch dort Entwicklungssprünge geben. Im nächsten Jahr wird z. B. der SP-Roboter (Single Port) auch in Europa zur Verfügung stehen. Es gibt auch die ersten Mitbewerber auf dem Markt. Davon profitieren am Ende die Operateure und die Patienten. 

Wie finden Sie denn heraus, ob eine Prostatavergrößerung gut- oder bösartig ist?

Jörn Witt: Ein guter Parameter ist der so genannte PSA-Wert, mit dem man das Prostataspezifisches Antigen, einen Eiweißstoff nachweist, der nur in der Prostata gebildet wird. In Deutschland ist diese Blutuntersuchung keine Kassenleistung, in vielen anderen Ländern schon. Sollte der Wert erhöht sein, ist der sinnvolle nächste Schritt ein multiparametrisches MRT. Dieses Bildgebungsverfahren steht in den Europäischen Leitlinien als Bildgebung vor einer Probenentnahme, in den deutschen leider noch nicht. Die Bilder, die ich damit bekomme, sind sehr wichtig, um eine gezielte Biopsie vorzunehmen. Ohne MRT agieren Sie ein bisschen wie im Blindflug und nehmen von überall ein paar Proben und gefährden die Gesundheit des Patienten. Einige gesetzliche Versicherungen haben das erkannt und ich hoffe, dass es am Ende eine Kassenleistung für alle Betroffenen sein wird. Im Übrigen sind die Ergebnisse besser als bei einem Mammographiescreening, das von den gesetzlichen Kassen übernommen wird.

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Paracelsus-Klinik

In der Paracelsus-Klinik Golzheim Düsseldorf werden sämtliche Erkrankungen der Niere, Nebennieren, Harnleiter, Blase, Harnröhre, Prostata / Prostatakrebs behandelt, sowie Erkrankungen des männlichen und weiblichen Genitals in allen Lebensaltern. Schwerpunkte sind die Behandlung bei Harninkontinenz bei Mann und Frau und Behandlung bei männlicher Impotenz. Das Exzellenzzentrum „Operieren mit Da Vinci®“ steht für modernste Medizintechnik, hohe Kompetenz und Erfahrung. Die Paracelsus-Klinik Golzheim Düsseldorf wurde 2023 zum wiederholten Mal als eine der besten Kliniken Deutschlands auf der Liste des
Magazins FOCUS Gesundheit geführt.

Weitere Infos

Wie berechtigt ist die Sorge, inkontinent und/oder impotent zu werden nach einer Prostata-OP? 

Jörn Witt: Die Kontinenzrate ist sehr hoch. Bei meinen Patienten haben 99,5 Prozent keine dauerhaften lebenseinschränkenden Beschränkungen, sind also nach dem Eingriff nicht inkontinent. Dabei spielt das Alter keine Rolle. Bei der Potenz spielt das Alter schon eine Rolle. Männer unter 60 Jahren bleiben in der Regel potent, sofern sie es vorher waren und ein nerverhaltendes Vorgehen aufgrund der Krebserkrankung möglich ist. 

Gibt es auch Männer, die wegen Potenzproblemen zu Ihnen kommen? 

Jörn Witt: Selbstverständlich, das gehört zur urologischen Versorgung und wird ab dem nächsten Jahr auch ein Schwerpunkt unserer Arbeit hier sein. Zehn bis 20 Prozent der 40- bis 50-Jährigen haben bereits Probleme mit der Potenz. Und mit zunehmendem Alter steigt der Prozentsatz und kann z. B. zum Problem werden, wenn eine neue Partnerin ins Spiel kommt. 

Was schlägt Männern denn auf die Potenz? 

Jörn Witt: Zuviel Alkohol, Rauchen und Stoffwechselerkrankungen. Und natürlich die ganzen Wohlstandserkrankungen, die auf zu viel Nahrung und zu wenig Bewegung zurückzuführen sind, also auch Übergewicht.

Berufswunsch Arzt kann ich mir vorstellen, aber wie kommt man zur Urologie?

Jörn Witt: Ehrlich gesagt, wollte ich gar nicht von Anfang an Arzt werden. Ich war ich in der Schule nicht der Fleißigste und wusste nach dem Abitur nicht, was ich werden wollte. Dann habe ich meinen Zivildienst im Kreiskrankenhaus Wedel/Holstein absolviert. Nach der Visite haben die Patienten mich häufig angesprochen und gefragt, was der Arzt eigentlich gesagt habe. Da habe ich mir gedacht: Das könnte ich als Arzt besser machen. Bis heute achte ich darauf, dass ich mit meinen Patienten in einer Sprache spreche, die für sie verständlich ist und dass ich deutsche Begriffe verwende.

Aber promoviert haben Sie in der Orthopädie über versicherungsmedizinische Aspekte von athroskopisch entfernten Meniskusanteilen. Zwei Fragen: erstens, gibt es diese Aspekte und zweitens wie kamen Sie von da zur Urologie?

Jörn Witt: Ich habe in Bochum in der Orthopädie mein Praktisches Jahr gemacht. Dort hat man mir die Doktorarbeit über die besagten Meniskusanteile angeboten. Endoskopie war Ende der 1980er-Jahre neu und um Ihre erste Frage zu beantworten: Man kann in der Pathologie anhand der Proben recht gut erkennen, ob jemand einen versicherungstechnischen Anspruch auf Berufsunfähigkeit hat, also ob die Meniskusprobe eine akute Verletzung aufweist aufgrund eines Unfalls oder ob sie degenerativ aussieht, also Verschleißerscheinungen zeigt. Zu Ihrer zweiten Frage: Ich wollte in der Tat damals Orthopäde werden und mich vorher noch in der Allgemeinchirurgie weiterbilden. Es gab damals allerdings viele Absolventen und Stellen waren rar. So bin ich nach einer Schwangerschaftsvertretung in der Allgemeinchirurgie über eine Anzeige im Ärzteblatt in der Urologie der Freien Universität im Rudolf Virchow Klinikum in Berlin gelandet. 

Was wäre Ihr größter medizinischer Traum?

Jörn Witt: Zu verstehen, wie man den Körper dazu bringt, dass Krebserkrankungen erst gar nicht entstehen. Ich befürchte allerdings, dass die Pharmaindustrie in diese Forschung kein Geld stecken würde. Und wenn das gelänge, wäre ich arbeitslos. Aber das wäre es mir wert.

Susan Tuchel

Fotos: Alexander Vejnovic

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Dr. Jörn H. Witt

Jörn H. Witt wurde in Hamburg geboren, hat lange in Westfalen und im Ruhrgebiet gelebt. Sein Onkel hatte eine Reederei. Ein Schwarz-Weiß Foto von einem Frachter mit dem Namen Witt ziert sein Büro. In seiner neuen Funktion als Klinikdirektor ist es ihm wichtig, dass seine Mitarbeiter eingebunden sind und Verantwortung übernehmen. Witt hat aktuell über 188 wissenschaftliche Veröffentlichungen vorzuweisen. „Das liegt daran, dass ich mit sechs Stunden Schlaf auskomme.“ Der Klinikdirektor hat eine Frau und vier Kinder, fährt gerne Rennrad, spielt am Wochenende Golf, liest Krimis und Fachbücher über Wirtschafts- und Volkswissenschaften. „Weil es mich nervt, dass Politiker meinen, es gibt kein Geld, das man in die Infrastruktur stecken kann.“ Witt hat eine Wohnung in Düsseldorf-Düsseltal und fährt am Wochenende zur Familie. Diese will nachkommen, wenn der Sohn auf eine weiterführende Schule kommt.

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