Im Mittelpunkt steht, worauf wir sitzen
Im Sitzen sind die Deutschen Weltmeister. Mit 554 Minuten sitzen wir über neun Stunden pro Werktag – so die aktuellen Zahlen des Gesund- heitsreports 2023 der Deutschen Krankenversicherung (DKV) „Wie gesund lebt Deutschland“. Am Büroalltag kann Jürgen Hagendorn zwar nicht drehen, aber an den Stühlen, auf denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterihren Arbeitsalltag verbringen. Ich besuchte ihn in seinem Unternehmen in Düsseldorf-Eller.
Sie schreiben auf Ihrer Website, dass es den „besten Stuhl“ nicht gibt, warum gibt es den denn nicht?
Jürgen Hagendorn: Weil wir Menschen nicht fürs Sitzen auf einem Stuhl gemacht sind. Als Jäger und Sammler waren wir ständig auf Achse und wenn wir müde waren oder gegessen haben, haben wir uns hingehockt oder auf einen Baumstumpf oder Stein gesetzt. Der Stuhl gehört aber schon lange zur Kultur unserer Gesellschaft und das Sitzen ist die Haltung, mit dem die meisten Menschen ihren Arbeitsalltag und oft auch ihre Freizeit verbringen. Durch langes Sitzen baut sich jedoch die Muskulatur ab und wir entwickeln Fehlhaltungen. Das haben viele Unternehmen erkannt und satteln um auf höhenverstellbare Schreibtische und Stehpulte.
Aber acht Stunden im Stehen Bildschirmarbeit, das macht doch keiner, oder?
Jürgen Hagendorn: Nein, aber wichtig ist, die Position öfter zu wechseln, zum Drucker zu gehen, oder mit dem Headset beim Telefonieren unterwegs zu sein. Da hat sich die Büroeinrichtungsphilosophie auch komplett geändert. Vor zwanzig Jahren hat man noch alles quasi vor der Nase des „Schreibtischtäters“ aufgebaut. Heute stehen die Aktenschränke grundsätzlich gegenüber.
„Ein guter Stuhl ist eine präventive Maßnahme gegen Rücken- und Nackenprobleme.“
Jürgen Hagendorn
© Ludger Wunsch Photographie
„Die meisten kommen erst, wenn sie Probleme haben.“
Jürgen Hagendorn
Gut, ich stehe also ab jetzt öfter während der Arbeit auf, was soll der Stuhl denn ergonomisch können?
Jürgen Hagendorn: Er muss sich drehen lassen und höhenverstellbar sein. Gut ist auch, wenn sich die Sitzfläche nach vorne oder hinten verstellen lässt, denn Mitarbeiter haben unterschiedliche Körpergrößen und Figuren. Es gibt Stühle mit einer Lordosenstütze in der Rückenlehne. Wichtig ist, dass die Rückenlehne höhenverstellbar ist, im besten Fall auch die Armlehnen. Viele Menschen empfinden es als entspannend, wenn der Anpressdruck der Rückenlehne auf ihr Körpergewicht eingestellt ist, sie also wippen können. Und es gibt Stühle, auf denen man verschiedene Sitzpositionen einnehmen kann wie beim norwegischen Klassiker Capisco mit Sattelsitz, der seit 40 Jahren unverändert so gebaut wird. Den sieht man sehr oft in Arztpraxen.
Wenn die Stühle so perfekt sind, warum sind Rückenschmerzen dann immer noch die Volkskrankheit Nummer eins?
Jürgen Hagendorn: Ein Stuhl ist kein Medikament, sondern eine präventive Maßnahme. Es gibt zwei Hauptprobleme, die ich immer wieder in den Unternehmen beobachte. Die meisten sitzen einfach falsch. Wenn ich die Funktion der Stühle erkläre, demonstriere ich den Mitarbeitern, dass man am besten mit dem Rücken an der Rückenlehne runtergleitet, weil man dann automatisch ganz hinten auf dem Stuhl sitzt. Das prägt sich ein. Und das zweite Problem ist, dass die Mitarbeiter oft nicht mit der Technik ihrer Stühle vertraut sind. Deswegen bekommt bei mir niemand einen Stuhl ohne eine kleine Schulung.
Bringen Sie die Stühle zum Testen dann in die Unternehmen oder kommen die Kunden zu Ihnen?
Jürgen Hagendorn: Ich kann natürlich nicht alle Stühle, die Sie hier sehen, in ein Unter- nehmen bringen, aber drei bis vier schon. Und dann lade ich die Mitarbeiter immer ein, bei mir die Stühle zu testen. Ich sage immer: Idealerweise benutzen Sie Ihr eigenes Popometer.
Was stellt man zuerst ein, die Tischhöhe oder den Stuhl?
Jürgen Hagendorn: Immer zuerst den Stuhl. Wenn man dann zum Tisch rollt, dann soll- ten sich die Armlehnen in Verlängerung des Tisches befinden. Die Faustregel ist ein 90 Grad-Winkel zwischen Ober- und Unterschenkel und Ober- und Unterarm. Das funktioniert natürlich nur, wenn der Schreibtisch höhenverstellbar ist.
Sie haben nicht nur Bürostühle im Sortiment, sondern richten Büros ein, von der 3D-Planung und Lieferung bis zur Montage. Ab welcher Auftragsgröße?
Jürgen Hagendorn: Ab jeder. Ich liefere jeden Stuhl aus, bringe ihn ins Unternehmen, in Praxen und Kanzleien, aber genauso gut ins Homeoffice.
Welche Trends sehen Sie in Bezug auf ergonomische Büromöbel und Arbeitsplatzgestaltung?
Jürgen Hagendorn: Nachhaltigkeit ist ungebrochen seit Jahren der größte Trend. Viele Materialien lassen sich recyclen oder man nimmt Stoffe, die aus recycelten Kunststoffen hergestellt wurden. Susan Tuchel
Zur Geschichte des Stuhls
Erste Spuren der Herstellung von drei- oder vierbeinigen Hockern stammen aus der Jungsteinzeit. Die eigentliche Entwicklung des vierbeinigen Stuhles mit Sitzfläche und Rückenlehne begann vor 5.000 Jahren. Im Mittelalter machten Kaiser, Könige und Kirchenfürsten den Thron zum Symbol ihrer Herrschaft. Erst ab dem 18./19. Jahrhundert wurde das Sitzen auf Stühlen in weiten Bevölkerungskreisen allmählich zum Normalfall. Bequem auf einem Armstuhl saß jedoch meist nur der Hausherr, die übrigen Familienmitglieder und das Gesinde saßen auf Bänken und Hockern.
v.l. Jürgen Hagendorn, Silke Caspari und Vanessa Schönwald-Brand
© Ludger Wunsch Photographie
Über Jürgen Hagendorn
// Der staatlich geprüfte biologisch-technische Assistent tauschte den weißen Kittel gegen einen Job als EDV-Berater bei einem Büroeinrichter, stieg dann selber als Inhaber ein.
// Ende 2023 ging er mit www.hagendorn-bueroeinrichtungen.de online und beschäftigt zwei Mitarbeiterinnen in seinem Unternehmen in Eller, wo er seit 2007 erster Vorsitzender von IndividuEller e. V. ist. Der Verein hat gerade ein Ladenlokal für ihre Stadtteilarbeit angemietet. Um Menschen zu ermöglichen, lange zu Hause zu wohnen, stellt Hagendorn dort eine Senioren-Stuhlserie aus. „Das ist für viele angenehmer, als in ein Sanitätshaus zugehen.“
// Sein Unternehmen ist außerdem eine Ausgabestation für den Gratis-Verleih von Lastenrädern https://www.lastenrad-duesseldorf.de/
// Fußball spielt Hagendorn in Eller, seitdem er sechs ist. Er rief die Düsseldorfer Ü 60-Mannschaft ins Leben, die in diesem Jahr westdeutscher Meister wurde.