Im März 2023 besuchten Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil Kanada, um sich zum Thema Einwanderung zu informieren. Auf die Frage der Gastgeber, ob die Aktenführung in Deutschland bei diesem Thema digital geschähe, antwortete man mit Gelächter. Aus Sicht der Bürger unseres Landes wäre im Lichte der Realität beschämtes Schweigen die angemessenere Reaktion gewesen. Jene wurde zuletzt in einem von der Bundesregierung beauftragten Gutachten wie folgt attestiert: „Deutschland ist sowohl beim Ausbau der digitalen Infrastruktur als auch beim Einsatz digitaler Technologien und Dienstleistungen hinter viele andere OECD-Staaten zurückgefallen.“ Auch der letzte Prüfbericht der OECD betont, dass Deutschland strukturelle Schwachstellen aufweise und seine digitale Transformation unbedingt beschleunigen müsse. 

Dieser Rückstand lässt sich besonders drastisch in einem lebenswichtigen Bereich illustrieren. Im Gesundheitssektor geistert seit 20 Jahren die Idee der elektronischen Patientenakte (ePa) umher – bis heute ohne Realisierung. Mit der ePa wüsste die Notfallaufnahme sofort, welche Unverträglichkeiten das soeben eingelieferte Unfallopfer hat. Das wiederholte Ausfüllen eines Anamnesebogens wäre Vergangenheit. Die Apotheke wüsste sofort, welches Medikament der Arzt soeben verschrieben hat. Der weiterbehandelnde Hausarzt oder die Pflegeeinrichtung wäre sofort nach der Krankenhausentlassung im Bilde und es bräuchte keinen Transfer eines papierenen Entlassungsbriefes. Zudem wäre für die Forschung ein Datenschatz verfügbar, der evidenzbasierte Entscheidungen ermöglicht. In EU-Studien sind deutsche Kliniken deswegen nicht dabei, weil sie keine Daten beisteuern können. Wie auch in der Pandemie muss sich die deutsche Politik regelmäßig auf Studienergebnisse aus anderen Ländern verlassen, um rational über Gesundheitspolitik zu entscheiden.

Nun versucht Gesundheitsminister Karl Lauterbach den Fortschritt in einem Brachialakt durchzusetzen. Schon 2025 sollen 80 Prozent der Versicherten eine ePa haben. Dabei ist ein „Opt-Out“ Verfahren vorgesehen. Wer nicht aktiv widerspricht, bekommt eine ePa. Im Augenblick ist es andersherum. Bei jedem Krankenhausbesuch muss etwa ein Zettel ausgefüllt werden, dass der Hausarzt die klinischen Befunde sehen darf. Der Normalzustand ist also, dass die Daten vor dem Hausarzt geschützt werden müssen und nur mit expliziter Erlaubnis zugänglich sein dürfen. Hätte ich derart wenig Vertrauen in meinen Hausarzt, müsste ich ihn eigentlich wechseln. 

Das Risiko, dass mein Hausarzt Schindluder mit meinen Daten treibt, wird demnach in der derzeitigen Praxis höher bewertet als mein Gesundheitsschutz. Stimme ich zu, so dürfen sich die Dokumente in Papierform zu meinem Hausarzt auf den Weg machen – immerhin nicht mehr mit Brieftaube. Dort erfasst sie dann eine Arzthelferin abermals in einem EDV-System. Man stelle sich vor, wieviel Mehrfacharbeiten / Mehrfacherfassungen durch die ePa eingespart werden könnten. Von den Ressourcen wie Papier, Zeit, Platz für Ordner usw. ganz zu schweigen. Die Kosten im Gesundheitswesen sind auch deshalb so hoch und sollten von daher niemanden wundern.

Die derart skizzierte Mehrfacharbeit der manuellen Erfassung derselben Daten bringt ein ohnehin schon an Personalnot leidendes Gesundheitssystem perspektivisch zum Kollaps. Im Gesundheitssektor und der staatlichen Verwaltung liegen somit Effizienzsteigerungspotentiale seit Jahrzehnten ungenutzt herum. Diese Situation ist unserem Land absolut unwürdig. 

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Prof. Dr. Frank Lehrbass

Prof. Dr. Frank Lehrbass ist seit 2015 Professor an der FOM Hochschule. Sein Lehr- und Forschungsgebiet sind Finance & Data Science. Er ist Inhaber der L*PARC Unternehmensberatung. Er berät Unternehmen aus Handwerk, Industrie, Handel und dem Finanzsektor bei der Digitalisierung und dem Einsatz von KI, insbesondere bei der Analyse von Markt– und Unternehmensdaten sowie beim Management von Kredit-, Länder-, Liquiditäts-, Marktpreis- und operationellen Risiken. Ab 2024 bietet er bei IT.NRW eine Fortbildung zu „Python – Maschinelles Lernen in der Praxis“ an. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Berufserfahrung außerhalb der Hochschule und beim Einsatz digitaler Werkzeuge und quantitativer Methoden im Investment Banking und Commodity Trading. Er studierte an den Universitäten Bonn, Mannheim, Dortmund und Johns Hopkins (Baltimore, MD, USA). Seit 1994 publiziert er in renommierten Fachzeitschriften und Verlagen, z. B. Springer.

Viva España

Wie tief Deutschland gefallen ist, zeigt ein Vergleich mit Spanien. Dort verfügt jede Person über eine elektronische Patientenakte. Bereits durch die Vereinbarung eines Arzttermins erteilt ein Patient dabei automatisch seine Zustimmung zur Einrichtung einer solchen Akte („historia clínica electrónica“ – HCE) und den Zugriff von Ärzten darauf. In Andalusien wurde diese bereits 1993 eingeführt und dann landesweit ausgerollt. Der in Spanien noch stärker vorhandene Föderalismus hat hierbei kein Hemmnis bedeutet. Daran kann unser Rückstand also nicht liegen. Dass jede der 17 Regionen über eine eigene Akte verfügt, führt nicht zu Wildwuchs und Inkompatibilität. Das wird durch ein automatisches Extrahieren eines Basis-Datensatzes verhindert. Dieser ist überregional austauschbar. 

Warum hat Spanien einen Vorsprung? 

Neben der höheren Offenheit der Bevölkerung für Neuerungen gibt es einen ähnlichen Faktor auf Seiten der Exekutive, insbesondere das Interesse am evidenzbasierten Vorgehen. Im Oktober 2012 hat die spanische Regierung die Public Reform Administration Commission gebeten, einen Bericht zu erstellen, der zeigt, wie man moderne wissenschaftliche Erkenntnisse der Verhaltensökonomik („Behavioral Science“) nutzen kann. Die spanische Regierung hat also seinerzeit erkannt, dass es besser ist, als Normalzustand das vorzugeben, was dem Bürger am meisten Nutzen stiftet. Es ist nun einmal so, dass der Bürger mit der Unzahl binärer Einwilligungsentscheidungen überfordert ist. Konkret wurden in Spanien Impftermine gegen Covid-19 elektronisch per SMS nach Alter absteigend zugeteilt. Wer die Impfung für Teufelswerk hielt, musste aktiv widersprechen – wie auch bei der Patientenakte. Dank der HCE (ePa) hatte man nicht nur den Gesundheitsstatus, sondern auch die Kontaktdaten.

Wie sah es dagegen in Deutschland aus?

„Die Kombination unseres strikten Datenschutzes mit der wenig pragmatischen Kultur der Datennutzung kostet Leben, da gibt es viele Beispiele. Es sollte mal jemand ausrechnen, wie viele hochaltrige Menschen im Winter 2020/21 nicht schnell genug geimpft wurden und an Covid-19 verstarben, weil man keine einfach verfügbaren Daten hatte, um sie zu finden“ – so die Ethikrat- Vorsitzende Alena Buyx. Auch die Zuteilung der anfangs sehr knappen Testkapazitäten geschah nicht nach wissenschaftlichen Kriterien. So wurden Fußballer der Bundesliga eher getestet als das Personal in Pflegeeinrichtungen.

Warum liegt Deutschland hinten? 

Hier gibt das von der Bundesregierung beauftragte Gutachten Antworten: „Strukturen und Prozesse der öffentlichen Verwaltung haben sich bereits vor der Pandemie als wesentliche Hemmnisse für eine effektive Digitalisierung erwiesen. Das Koordinations- und Organisationsversagen der öffentlichen Hand in Deutschland ist mehrfach in internationalen Vergleichen aufgezeigt worden.“ Mehr Geld ist also nicht die Lösung, sondern ein Aufräumen der Aufbau- und Ablauforganisationen unserer Exekutive. Insbesondere muss „die Führung der jeweiligen Organisationseinheiten deutlich verbessert werden. Deutschland leistet sich in der öffentlichen Verwaltung Strukturen, Prozesse und Denkweisen, die teilweise archaisch anmuten. Digitale Transformation stockt, wenn es keine Vorbilder gibt. Die politische und administrative Führung der Organisationen muss digitale Transformation wollen und bereit sein, die Dringlichkeit der Transformation auch effektiv in die jeweilige Organisation zu vermitteln“. 

Warum steckt Deutschland fest? 

Abermals hilft die Verhaltensökonomik. Sie erklärt mangelnde Veränderungsbereitschaft mit einem sogenannten Status Quo Bias, also einer Präferenz gegen Veränderungen, wenn diese in einigen Dimensionen mit Verlusten verbunden sind, selbst wenn die Gewinne in anderen Dimensionen überwiegen. So etwas muss man sich natürlich leisten können. Der Beamtenstatus erleichtert dies. Ein Beamter oder Angestellter, der sich der Nutzung von IT verweigert, muss eben nicht mit baldigem Rauswurf rechnen. Dies erklärt auch die unzureichende Digitalkompetenz in der Exekutive. Bislang fehlt der „Nachweis, dass die Bürokratie endlich Tempo aufnimmt“. 

Im persönlichen Umfeld gibt es zuhauf Anekdoten von Beamten, die bei der Digitalisierung abstinent sind. Von Informatikkenntnissen ganz zu schweigen. Trotzdem kann man es in unserem Land derart bis in den Ruhestand schaffen.

Aufschlussreich ist dabei die aktuell diskutierte Novelle des Onlinezugangsgesetzes. In dem Entwurf des Innenministeriums heißt es, dass die Verwaltung bislang „hinter den Erwartungen der Bevölkerung und der Wirtschaft zurück“ bleibe und sich dies „nachteilig auf die Zufriedenheit“ mit den Behörden auswirke. Zudem beschwört man im Entwurf, dass „Bund und Länder .. Eigenentwicklungen wo immer sinnvoll und möglich nur noch als Open Source beauftragen“ werden. Jedoch wird diskutiert, ob man Kommunen und Länder sanktionieren soll, die die Digitalisierung schleifen lassen. Erstens liegt somit kein Erkenntnisproblem bei den Verantwortlichen vor. Zweitens ist bitter festzustellen, dass Effizienzvorteile durch gemeinsame Softwarenutzung bislang ignoriert werden. Drittens glauben einige ernsthaft immer noch, dass es ohne Sanktionen geht. Das Beispiel Wohnungsbau zeigt doch zur Genüge, was das Verabschieden von Wunschvorstellungen ohne Sanktionsmechanismen am Ende bewirkt.

Dies ist aber nur eine Seite der Medaille. Natürlich gibt es auch aufgeschlossene und engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Exekutive, wie jede Person aus eigener Erfahrung weiß. Doch wie das Beispiel der deutschen Bundesbahn zeigt, kann man ein System kaputtsparen. Technisch hinkte der öffentliche Dienst jahrelang hinterher. Als man dann endlich nachrüstete, wurde oftmals die Ausstattung zwar besorgt, die Mitarbeitenden aber nicht ausreichend geschult. Zu guter Letzt wurde dann oftmals noch die hauseigene IT abgeschafft, da eine externe Betreuung als vermeintlich billigere Alternative erschien, wodurch letztlich Inhouse-Ansprechpartner bis heute fehlen. Der kurze Dienstweg ist damit nicht möglich.

Ferner hemmen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden die Einführung einheitlicher Verfahren und Standards, insbesondere in der öffentlichen Verwaltung erheblich. Es mutet wie ein Schildbürgerstreich an, dass beispielsweise einige Ruhrgebietsstädte verschiedene Softwarelösungen haben. Als ob sich die diesbezügliche Verwaltung nach ein paar Kilometern Luftlinie ändern würde!

Effizienzvorteile durch Ausrollen einer bundeseinheitlichen Software werden liegen gelassen. Kein Unternehmen könnte sich erlauben, dass jeder Geschäftsbereich eine eigene IT-Insel darstellt. Es ist zu befürchten, dass ohne eine klarere und sachorientierte Zuweisung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten eine Beschleunigung der öffentlichen Verwaltungsprozesse unmöglich sein wird. Wirklich effektive Gesetzesänderungen sind in einem Land, in dem man sich noch nicht einmal auf ein Tempolimit auf Autobahnen wie im übrigen Europa einigen kann, nicht zu erwarten. Deutschland steht – auch damit – weltweit ziemlich alleine da. Es ist absehbar, dass wir bald recht einsam als digitaler Depp in der Welt verschrien sind. Insofern sollten die Spitzen unserer Exekutive besser nicht schmunzeln, sondern bitterlich weinen, wenn sie die digitale Inkompetenz unseres Landes bekennen müssen.

Frank Lehrbass

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