Die Medien stürzen sich mit Vorliebe auf die „Letzte Generation“, die zumindest insofern nicht ganz ökologisch ist, weil sie viel Sekundenkleber verbraucht, und gesellschaftspolitisch fragwürdig, weil sie auch vor Kulturgütern nicht haltmacht. Für Frank Lehrbass, Professor für Finance und Data Science an der FOM in Düsseldorf, ist die Klimamarschrichtung in der EU zwar vorbildlich, führt aber ohne globale CO2-Zertifikate ins Klimafiasko.

Wie halten wir es mit dem Klima-Countdown?

Wer die Protestaktionen der Klima-Aktivistinnen und Aktivisten rund um Lützerath bis hin zur Besetzung des Parteibüros der Grünen in Düsseldorf verfolgt, der könnte den Eindruck gewinnen, dass sich hier die Zukunft des Planeten entscheidet und es in Europa höchste Zeit für solche Alarmsignale ist, weil die Politik noch schläft. 

Wer sich hingegen über die Sachlage informiert, erkennt schnell, dass hier eine Fehlallokation von Ressourcen zu beobachten ist. Und dies nicht nur, weil das Dorf Lützerath in den Worten von Wirtschaftsminister Robert Habeck eben nicht das Symbol für ein „Weiter so“ bei der Braunkohle-Verstromung ist, sondern der Schlussstrich. Zudem wurde durch Habecks Einsatz das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) modernisiert, womit die Errichtung von Grünstromanlagen im überragenden öffentlichen Interesse ist. Das macht Genehmigungen einfacher, beschleunigt also den dringend notwendigen Ausbau. Das EEG 2023 ist die größte energiepolitische Gesetzesnovelle seit Jahrzehnten.

 

„Fit for 55“

Zudem ist Europa weltweit Vorreiter beim Klimaschutz. Ende 2022 einigten sich der Rat und das Europäische Parlament auf das „Fit for 55“ Paket. Bis 2030 sollen die Treibhausgas-Emissionen um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 gesenkt werden. Dies ist keine bloße Absichtserklärung, denn Europa verfügt über das EU-Emissionshandelssystem (EU-EHS). Dies ist ein CO₂‑Markt, der auf festen Emissionsobergrenzen und dem Handel mit Emissionszertifikaten für energieintensive Industriezweige und den Stromerzeugungssektor beruht. Das EHS ist das wichtigste Instrument der EU zur Verringerung der Emissionen. Seit 2005 muss für den Ausstoß von CO₂ bezahlt werden. 

Zunächst galt diese Pflicht nur für Stromerzeuger, Stahlhersteller u. a. energieintensive Industrien. Doch wurde sie schrittweise ausgeweitet und erstreckt sich bald auch auf den Wohn- und Verkehrssektor. Dabei definiert die EU, wieviel CO₂ jährlich ausgestoßen werden darf (=“cap“ = Festlegung einer Obergrenze). Dieses Volumen sinkt von Jahr zu Jahr und wird auf einem Markt angeboten, woraus sich der CO₂-Preis ergibt (=„trade“ = Handel mit CO₂-Zertifikaten). Wie wirksam die zunehmende Verknappung ist, zeigt sich an der Entwicklung dieses Preises: Bis 2020 dümpelte er unterhalb 30 EUR/t CO₂. Seit Ende 2020 liegt er weit oberhalb 30 EUR und aktuell sogar oberhalb 80 EUR/t CO₂. 

Seit der Einführung des EU-EHS im Jahr 2005 sind die Emissionen in der EU um 41 Prozent zurückgegangen. Mit „Fit for 55“ wird das System noch ehrgeiziger, damit die Emissionen noch weiter gesenkt werden. Wie genau soll am Beispiel der Stromerzeugung aufgezeigt werden. Die übliche Recheneinheit im Großhandel sind Megawattstunden, kurz MWh, d.h. 1000 KWh. Der Einfachheit halber wird ab jetzt mit gerundeten Zahlen gearbeitet. Gemäß einem energieökonomischen Lehrbuch muss Braunkohle zum Preis von 20 EUR beschafft werden, um eine MWh Strom aus Braunkohle zu erzeugen. 

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Prof. Dr. Frank Lehrbass

Prof. Dr. Frank Lehrbass ist seit 2015 Professor an der FOM Hochschule. Sein Lehr- und Forschungsgebiet sind Finance & Data Science. Er ist Inhaber der L*PARC Unternehmensberatung. Er berät Unternehmen aus Industrie, Handel und dem Finanzsektor bei der Analyse von Markt- und Unternehmensdaten sowie beim Management und der Modellierung von Marktpreis-, Kredit-, Liquiditäts-, operationellen und strategischen Risiken. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Berufserfahrung außerhalb der Hochschule und beim Einsatz von quantitativen Methoden im Investment Banking und Commodity Trading. Er studierte an den Universitäten Bonn, Mannheim, Dortmund und Johns Hopkins (Baltimore, MD, USA).

Kohleausstieg durch die Kraft des Marktes

Jedoch muss RWE seit 2005 eine entsprechende Menge an CO₂-Zertifikaten kaufen, um Braunkohlestrom erzeugen zu dürfen. Bei der Verstromung von Braunkohle fallen für eine MWh etwas mehr als eine Tonne CO₂ an. Ein zusätzlicher Gewinn aus der Stromerzeugung ist somit nur möglich, solange die Grenzkosten, resultierend aus CO₂ und Braunkohle, kleiner als der Strompreis sind. Da Erstgenannter aktuell oberhalb 80 EUR/t CO₂ liegt, wird die Stromerzeugung aus Braunkohle unrentabel, sobald der Strompreis unter 100 EUR / MWh liegt. 

Sänke der Strompreis wieder auf Niveaus, wie sie bis Mitte 2021 normal waren, würde der wegen „Fit for 55“ steigende CO₂-Preis automatisch zum Abschalten der Braunkohlekraftwerke führen. Der Kohleausstieg hätte sich in diesem Fall von selbst über die Marktkräfte ergeben und man hätte sich die Subventionierung des Ausstiegs sparen können. Dieser Effekt wird durch die Hedgingmaßnahmen von RWE etwas verzögert. Hedging bedeutet, dass man Dinge, von denen man weiß, dass man sie für die Produktion benötigt, so weit wie möglich im Voraus zu einem festen Preis einkauft. So kauft RWE die benötigten CO₂-Zertifikate für die thermischen Kraftwerke im Voraus ein und sichert sich damit deren Preise. Jedoch sind die Märkte für solche Terminkäufe in der Regel nur bis zu drei Jahren liquide genug. Nach dieser Zeit drücken sich somit spätestens die erhöhten Preise für die CO₂-Zertifikate auf das wirtschaftliche Kalkül durch.

Dass zuletzt sehr viel Strom aus Braunkohle produziert wurde, liegt auch am deutlich gestiegenen Strompreis. Der russische Angriff auf die Ukraine und der deutsche Ausstieg aus der Atomkraft sowie die Probleme mit französischen AKWs haben den Strompreis nach oben getrieben. Mit dem weiteren Ausbau grüner Stromerzeugung und weiteren Energiesparmaßnahmen lässt er sich senken.

Das lokale Handeln der EU führt jedoch aufgrund der weltweiten Vernetzung zu einem klimaschädlichen Effekt. Wenn Europa aus der Kohle insgesamt aussteigt, dann erhöht sich das Angebot für den Rest des Planeten. D. h. China und Indien könnten dann günstiger ihre Kraftwerke versorgen. Und an denen fehlt es nicht. Die Zeitreihe der neu installierten Kohle-Kraftwerksleistung in China und Indien ist beachtlich.

In China wurde beispielsweise in den Jahren 2020 und 2021 insgesamt 66 GW Leistung an Kohlekraftwerken neu gebaut. Zum Vergleich: Die gesamte seit den 1950ern aufgebaute Braunkohleflotte von RWE hat eine Leistung von 8,5 GW und die aller Steinkohlekraftwerke 2,3 GW. Insofern verwundert es nicht, dass der Klimawandel mittlerweile wesentlich aus China getrieben wird. Die dortigen Lebensverhältnisse lassen sich aber nun einmal nicht ohne Wachstum verbessern. Un wer hätte das Recht, diesen Regionen ein Leben in Armut zu verordnen?

Zölle und Zertifikate

Um dem Effekt der Subventionierung ausländischen CO₂-Ausstoßes zu begegnen, hat die EU zusätzlich CBAM (= Carbon Border Adjustment Mechanism) verabschiedet. 

Unternehmen, die in die EU importieren, sollen verpflichtet werden, CBAM-Zertifikate zu erwerben, um die Differenz zwischen dem im Produktionsland gezahlten Kohlenstoffpreis und dem höheren Preis der Kohlenstoffzertifikate im EU-Emissionshandelssystem auszugleichen. Dies ist eine wichtige Ergänzung des EU-EHS. Denn andernfalls würde etwa die angestrebte, teurere grüne Stahlherstellung in Europa stets durch Stahl aus China unterboten, wo man dank billiger Kohle und fehlendem CO₂-Preis mit geringeren monetären Kosten produzieren kann.

Die EU macht sich damit zukunftsfest. Sie setzt Anreize, dass Wirtschaft und Gesellschaft den CO₂-Ausstoß senken. Sollten andere Regionen der Welt nachziehen, kann die EU Technologien, Produkte und Regelwerke anbieten, die sich bewährt haben und dem Klima helfen.

Diese preislichen Anreize wirken in Marktwirtschaften innovationsstimulierend. Dies gilt nicht nur für die Entwicklung von Medikamenten, wie mRNA-basierte Wirkstoffe, sondern auch für klimafreundliches Wirtschaften. So wie der Impfstoff von BioNTech erhöhen auch grüne Technologien das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Wenn etwa ein deutscher Stahlhersteller Carbon Capture and Storage (CCS) nutzt, worunter man die Abscheidung und anschließende Speicherung von Kohlendioxid versteht, wird hier eine Dienstleistung bezahlt, die es vorher nicht gab. Und das erhöht automatisch das BIP. 

Dass die Klimaziele ohne CCS nicht zu erreichen sind, steht mittlerweile außer Frage.

 

Ohne Kompromisse wird es nicht gehen 

Im Beispiel von CCS gibt es somit keinen Konflikt zwischen Wachstum und Klimaschutz. Wenn jedoch Kurzstreckenflüge wie Hamburg-Sylt häufiger als früher genutzt werden oder die SUVs einen immer größeren Anteil an Neuzulassungen haben (2013: 250 Tsd, 2022 800 Tsd), liegt klimaschädliches Wachstum vor. 

Derartige Kuriositäten zeigen zum einen, dass es in der Demokratie ohne Kompromisse nicht geht. Während eine Klimaaktivistin sogar über den Verzicht auf eigene Kinder nachdenkt, ordert ein junger Hanseat womöglich gerade den nächsten Flug nach Sylt. Das Thema Klimawandel wird eben nicht einheitlich gesehen und erfordert demnach Kompromisse. Dies gilt auch auf EU Ebene.

Nach den EU-Beschlüssen sollen Kohlenstoffemissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe im Straßenverkehr und beim Heizen jedoch erst ab 2027 bepreist werden. 

Diese Trägheit mag man bedauern, jedoch liegt das Problem hier nicht an der Marktwirtschaft, sondern an der rahmensetzenden Politik, die ihre Bürgerinnen und Bürger nicht überholen kann. Andere Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme wie das der DDR sind hierbei keine praxisbewährte Alternative. Von der Innovationsschwäche ganz zu schweigen.

Auch wenn die globale Dimension des Themas deutlich geworden ist, so ist die Zeit aktuell denkbar ungünstig für weitere internationale Übereinkünfte. Deshalb ist das Voranschreiten der Willigen, wie in der Idee des Klima Clubs ausformuliert, die beste Strategie. CBAM wird auch für das EU-Ausland einen Anreiz setzen, den Klimawandel ernster zu nehmen. Schließlich ist die EU ein großer Absatzmarkt mit kaufkräftiger Kundschaft.

Die Welt wird die Folgen des Klimawandels immer stärker spüren. Dies wird die Nachfrage nach grüner Technologie befeuern. Wer als junger Mensch mehr für das Klima tun möchte, der sollte – wenn überhaupt – vor der chinesischen Botschaft oder der Bayerischen Staatskanzlei (wegen Trägheit beim Ausbau von Netzen und Windkraft) demonstrieren und ansonsten lieber Handwerker oder Ingenieur werden, weil diese Personengruppen die Lösungen umsetzen und entwickeln, die der Planet braucht. Getreu dem Motto der Handwerkskammer: Streikst du noch oder arbeitest du schon für das Klima?

 

Frank Lehrbass

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