KRIEG IN DER UKRAINE – EINE ÖKONOMISCHE ANALYSE

Nicht alles ist schwarz oder weiß. Blickt man auf den Osten der Ukraine, leben dort Menschen, die sich Russland zugehörig fühlen. So zugehörig, dass sie stellenweise sogar bereit sind, mit den russischen Besatzern zu kollaborieren. Ähnliche Situationen eines gespaltenen Zugehörigkeitsgefühls gab es auch in der deutschen Geschichte, zum Beispiel zuletzt im Saarland.

Dort brauchte es zwei Anläufe, bis das Saarland im Rahmen der sogenannten kleinen Wiedervereinigung am 1. Januar 1957 Teil der Bundesrepublik wurde. Es ist also möglich auch nach jahrzehntelanger Feindschaft und – im Falle Deutschlands/Frankreichs – zweier Weltkriege eine konstruktive Lösung zu finden. Selbstverständlich genügen die bislang im Osten der Ukraine abgehaltenen Referenden nicht den Standards. Dafür müsste eine von beiden Seiten akzeptierte neutrale Instanz die Überwachung übernehmen. Beide Parteien akzeptieren die UN, womit eine Grundlage gegeben wäre. Jedoch müssten beide Parteien über ihren Schatten springen, was auch bei unserem Land mehrere Anläufe benötigte. Die Länge des Schattens im Falle Russlands lässt sich etwa an der Nicht-Akzeptanz von Urteilen des European Court of Human Rights abschätzen.

Aus ökonomischer Sicht ist eine solche friedliche Lösung die beste, weil keine weiteren Ressourcen mehr vernichtet werden. Aus menschlicher Sicht ist sie es ohnehin. Im Gegensatz zum damaligen Saarland ist die Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion als souveränes Land anerkannt, auch von Russland, welches der Ukraine nun ihre Souveränität abspricht. Dadurch werden Teile der Ukraine zu einem Gebiet, um das man sich streitet.

Das grausame Kriegsspiel

Faktisch verkleinert Krieg durch seine Zerstörungen die Schätze des Gebietes, um das man sich streitet.Im Falle zweier rationaler Parteien, die risikoavers sind, lässt sich spieltheoretisch zeigen, dass es viele mögliche Aufteilungen des Gebietes gibt, die als Verhandlungslösung erzielbar sind und beide Parteien besser als nach einem Krieg stellen.

Im Falle Putins kann empirisch gestützt argumentiert werden, dass seine Einstellung gegenüber Risiken nicht von Aversion bestimmt ist. Dies verkleinert den Verhandlungsspielraum und löscht ihn im Extremfall sogar aus. Dies verkleinert den Verhandlungsspielraum und löscht ihn im Extremfall sogar aus. Die Situation ist jedoch nicht statisch. Putin war schon mehrmals gezwungen seine Annahmen zu revidieren. Nachdemder ursprüngliche Plan, die Ukraine innerhalb von mehreren Tagen im Rahmen eines „Blitzkriegs” unter Kontrolle zubringen, fehlschlug, werden aktuell Varianten ausprobiert – bis hin zur Drohung mit Nuklearwaffen. „All in“ ist einebeliebte Strategie bei risikofreudigen Entscheidern. Umso wichtiger ist, dass Putin mit „Tit for tat“ rechnen muss. Die Kommunikation der Regierung unter Joe Biden ist somit passgenau. Dass beispielsweise ein Nuklearschlag Russlands nicht unbeantwortet bleiben wird, steckt im Hinweis auf Armageddon.
Die Dynamik kann auch dazu führen, dass eine Verhandlungslösung wahrscheinlicher wird als im Februar 2022. Insbesondere kann das Auftreten einer dritten Partei diese Wahrscheinlichkeit deutlich erhöhen, was ein zentrales Resultat der Forschung ist.

Die USA scheiden als dritte Partei aus, weil sie von Putin als Gegner wahrgenommen werden. Chinakönnte diese Rolle spielen. Notwendige Voraussetzung ist zudem, dass diese dritte Partei disziplinierend auf die streitenden Parteien einwirken kann. Die Handelsbeziehungen zu Russland und den USA und die Gläubigerposition gegenüber den USA stellen hier wirksame Hebel dar.

Für eine solche Lösung müsste auch die Ukraine über ihren Schatten springen, denn sie hat bereits mehrmals deutlich gemacht, dass Verhandlungen ausgeschlossen sind, solange russische Soldaten und Söldner in der Ukraine sind. Es ist schwer vorstellbar, dass Russland hierauf eingeht, weil man dadurch die eigene Verhandlungsposition schwächen würde. Man würde ja das Pfund, mit dem man wuchern kann, weggeben. Die skizzierten Lösungen setzen Rationalität bei den streitenden Parteien voraus. Hierfür gibt es Belege. Aus ökonomischer Sicht hat sich Russland auf sehr effiziente Weise die Krim einverleibt. Es wurden noch nicht einmal Soldaten mit Hoheitsabzeichen eingesetzt und die nachfolgenden Sanktionen erzielten nicht die beabsichtigten Wirkungen. Dies kann man beispielsweise detailliert für die Unternehmen Lukoil, Novatek, Rosneft, Surgutneftegas und Gazprom nachweisen. Eine unveröffentlichte Studie der FOM kommt zu dem Ergebnis, dass die nach der Annexion der Krim verhängten Sanktionen vor diesem Hintergrund als Symbolpolitik betrachtet werden können, weil sich die Bonität der genannten Unternehmen seitdem nicht verschlechtert hat. Die beabsichtigte Schwächung ist also ausgeblieben.

Die damit gesetzten Anreizeffekte für Putin sind klar: Mehr Einverleibungen! Insofern verwundern rückblickend die nachfolgend ergriffenen Schritte Russlands nicht: Infiltrierung der Ukraine mit Personal für eine neue Regierung, Leerlaufen lassen der Gasspeicher, militärische Vorbereitungen durch Truppenkonzentration an der ukrainischen Grenze und Abwarten bis Deutschland den Atomausstieg fastvollzogen hat.

Durch den Atomausstieg sind die preissetzenden Kraftwerke die Gaskraftwerke, was den Strompreis im Kontext der Verknappung von Gas etwa verzehnfacht. Für ein Industrieland ist dies eine schwere Belastung. Auch wenn sich die Puzzleteile retrospektiv in ein Gesamtbild fügen, so bleibt doch die Frage, warum Putin die Ukraine nicht unter der Präsidentschaft von Donald Trump angegriffen hat.

Mit Trump wäre die Unterstützung für die Ukraine meiner Meinung nach geringer ausgefallen. Ich vermute, dass Putin seine begrenzte Lebenszeit vor Augen hat und seine Vision deshalb zeitnah realisieren möchte.

Dass es sich in der Tat auch um Visionen und nicht nur um nüchterne Tatsachenwahrnehmung handelt, sieht man an der anfänglichen Erwartungshaltung. Im Rahmen einer militärischen Spezialoperationsollte die Ukraine mit 100.000 Soldaten eingenommen werden. Dies setzt voraus, dass der Angegriffene die Flucht ergreift. Für eine konventionelle Kriegsführung ist dies bei weitem zu wenig.

Zudem wird der Krieg in Form von punktuellen Angriffen auf den Rest des Landes geführt. In Deutschland ist bekannt, wie Städte aussehen, wenn sie in einem konventionellen Krieg maximal bombardiert wurden. Die Auslöschung der Ukraine ist somit nicht das Ziel, sondern weiterhin die Übernahme im Sinne der historisch aufgeladenen Propaganda.

Anders sieht dies für die Auslöschung der ukrainischen Identität, inklusive der Sprache, Kultur und Geschichte, aus. Dass die Mehrheit der Ukrainer die Russen nicht als Befreier begrüßt hat, dürfte Putin nicht entgangen sein. Ein solches Land militärisch zu bezwingen und unterjocht zu halten, wird ihm nun vermutlich zu kostspielig erscheinen. Hierbei ist wichtig, dass der Westen weiterhin die Kosten hoch hält bzw. noch erhöht. Erste Wahl bleibt die militärische Ausrüstung der Ukraine gefolgt von einer Beibehaltung der Sanktionen. Letztere können – wenn ernsthaft durchgesetzt – die zukünftige Produktion intelligenter Waffen einschränken helfen.

Mit der Zunahme der Zahl gefallener Soldaten wird es für die russische Bevölkerung immer anstrengender, sich geduckt zu verhalten. Verbal lässt sich eine Fassade über Jahrzehnte aufrecht halten wie die ehemaligen DDR-Bürger nur zu gut wissen. Aber sobald es an das eigene Leben oder das von Freunden und Familie geht, ist eine neue Qualität erreicht. Ob diese im Lichte von bis zu 15 Jahren Strafandrohung zu öffentlichen Protesten führt, ist eine offene Frage. In den USA jedenfalls gibt es eine Dynamik in der öffentlichen Debatte.

Ausblick

Eine Verhandlungslösung ist denkbar und wird in den USA aktuell aktiv eingefordert. Um die Wahrscheinlichkeit einer solchen Lösung zu erhöhen, ist es wichtig, dass der eingeschlagene Weg durch den Westen beibehalten wird, denn üblicherweise beginnen Verhandlungen erst im Stadium ausreichender militärischer Erschöpfung. Europa kennt diese Lektion nur zu gut.

Frank Lehrbass

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Prof. Dr. Frank Lehrbass

Prof. Dr. Frank Lehrbass ist seit 2015 Professor an der FOM Hochschule. Sein Lehrund Forschungsgebiet sind Finance & Data Science. Er ist Inhaber der L*PARC Unternehmensberatung. Er berät Unternehmen aus Industrie, Handel und dem Finanzsektor bei der Analyse von Markt- und Unternehmensdaten sowie beim Management und der Modellierung von Marktpreis-, Kredit-, Liquiditäts-, operationellen und strategischen Risiken. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Berufserfahrung außerhalb der Hochschule und beim Einsatz von quantitativen Methoden im Investment Banking und Commodity Trading. Er studierte an den Universitäten Bonn, Mannheim, Dortmund und Johns Hopkins (Baltimore, MD, USA).

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