Als Kommissar Vincent Ross im Berliner Episodenkrimi „Polizeiruf 110“ trägt er schon mal Schottenrock und immer Kajal. Im Schauspielhaus steht er seit dem 2. September in der Titelrolle als Richard III. in Shakespeares meistgespielter Tragödie auf der Bühne. Ich traf den Schauspieler André Kaczmarczyk im Fotostudio von Alexander Vejnovic und war gespannt wie ein Flitzebogen. Wir duzten uns spontan, tranken zusammen Kaffee, experimentierten beim Fotoshooting. Dabei philosophierte er über das Wesen der Schauspielkunst. Und darüber, ob er sich mit seiner Beziehung zu Düsseldorf gerade im verflixten siebten Jahr befindet. 

 „Ich hoffe, dass ich sozialer und zugänglicher geworden bin für andere 
Menschen. Ich bin durch
 und durch theatralisch und ein ziemlich emotionaler Mensch.“

Wie kamst Du zur Bühne?

Ich war neun Jahre alt, als wir von der kleinen Stadt Suhl im beschaulichen Thüringer Wald nach Eisenach zogen. Dort hatte sich auf dem Mälzerei-Gelände die Gruppe „Freies Eisenacher Burgtheater“ gegründet, die viel Jugendarbeit gemacht hat. Das war die Wende für mich und mein Leben. 

Du hast Dich selbst einmal als ängstliches und schüchternes Kind beschrieben, wie passt das zusammen?

Das ist kein Widerspruch. Es passt sogar gut, denn wenn man auf der Bühne ist, ist man in einer Rolle, die einem Freiheit und Schutz gewährt. In diesem Moment bin ich ja nicht mehr wirklich ich selbst; zumindest behaupte ich ein anderer zu sein. Wenn ich auf der Bühne stand, hatten sich bestimmte Fragen und Ängste für mich erledigt. Und das ist noch immer so. 

Welche Rolle spielt das Verkleiden? 

Fasching − wie es bei uns heißt − fand ich schon immer großartig. Im Theaterfundus in Eisenach habe ich blau lackierte Schuhe entdeckt, mit denen ich herumlief. Kleidung hat noch immer eine faszinierende Wirkung auf mich. Sie kann Menschen extrem bestimmen, aber auch befreien. Durch die Wahl verschiedener Kleidungsstücke verändert sich auch meine Stimmung. Damit spiele ich, das setze ich für mich ein. Ich kleide mich auch gerne extravagant, bin eher nicht der Outdoor-Typ mit der Wolfstatze. Wolfspelz hingegen − natürlich nicht echt − zöge mich dagegen wahrscheinlich an. 

Wolltest Du Deinen orthografisch nicht ganz einfachen Nachnamen schon einmal gegen einen Künstlernamen eintauschen?

Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Nein, ich hieß schon immer so und möchte auch nicht anders heißen. Meine Mutter hat neu geheiratet, trug dann einen anderen Namen als ich. Ich behielt den Namen meines polnischen Vaters. Er war Werkzeugmacher in der DDR, ging dann aber zurück nach Polen. 

Hat Deine Herkunft Deine Art zu denken beeinflusst? 

Es prägt einen immer, woher man kommt. Ich komme aus einem Familienzusammenhang, der als proletarisch zu beschreiben wäre. Bestimmte Denk- und Verhaltensweisen in literarischen Texten und Figuren waren mir daher vertraut, weil ich so groß geworden bin. Ich denke da an den Kosmos des Buchhalters Johannes Pinneberg, den Protagonisten in „Kleiner Mann – was nun?“ von Hans Fallada. Diese Welten, auch wenn sie in den 1930-er Jahren spielen, sind mir nah. Fremd war mir das Aufwachsen in einem Bildungsbürgertum mit vielen Büchern und einem klassischen Bildungskanon. Das kam für mich erst, als ich ausgezogen bin nach dem Abitur und das Fürchten gelernt habe. Aber so ist es ja immer: Wenn man den Schritt aus dieser Welt herauswagt, macht man sich der Herkunft auch automatisch fremd und dann ist man es auch – zeitweise oder für immer.

Mit 17 Jahren wurdest Du mit dem Jugendkulturpreis der Stadt Eisenach ausgezeichnet. Mit 19 Jahren standst Du als junger Luther auf der Freiluftbühne in Eisenach. Ausbildung und Spielen liefen immer parallel. Wie hast Du das in so jungen Jahren unter einen Hut bekommen?

Ich habe es einfach gemacht. Ich war schon mit 18 Jahren beim Landestheater in Eisenach und habe dann am Hans Otto Theater Potsdam gespielt. Studiert habe ich von 2006 bis 2009 Schauspiel an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. Ab 2007, also mit 21 Jahren, habe ich neben dem Studium als Schauspieler in Berlin, Rostock und Hannover gearbeitet.

Und es ist ja noch immer so, dass ich parallel jongliere. Ich habe die Schauspielkunst nie als einen reinen Beruf gesehen. Sie ist mein Leben; das Spielen nimmt mein Leben ein. Ich gehe morgens nicht zur Arbeit. Ich muss mich nicht motivieren oder zwingen, am Ball zu bleiben. Dahinter steckt kein geheimer Zauber und ich möchte auch, dass es so bleibt, bis ich in die Grube fahre.

Welche Beziehung hast Du zu Deinen Rollen?

Ich nehme alles mit und trage es oft noch Jahre später mit mir herum. Jede Rolle, die ich lerne, jedes Stück, das ich inszeniere. Es endet nicht; in gewisser Weise ist es nie fertig und abgeschlossen. Ich bin selber ein Instrument und Stücke, die ich jahrelang spiele, verändern sich, weil ich mich verändere, meine Rolle verändert sich.

Du hast Dich einmal als tendenziell eher unsozial und als einen sehr dramatischen Menschen beschrieben. Sind neue Facetten der Persönlichkeit hinzugekommen?

Ich hoffe es doch sehr. Ich hoffe, dass ich sozialer und zugänglicher geworden bin für andere Menschen. Und klar, dramatisch zu sein ist eine Voraussetzung in meinem Beruf. Ich bin durch und durch theatralisch und ein ziemlich emotionaler Mensch. Ich hänge nicht verwölkt über meinem Schreibtisch, aber ich bin auch kein reines Sonnenscheinchen. Small-Talk macht mir meistens Mühe.

Wer war Deine erste große Liebe?

Diese Frage ist mir doch zu intim, als dass ich darauf antworten möchte.

Wurdest Du oft enttäuscht?

Es hat in der Tat vieles gegeben, das mich enttäuscht hat. Das Wort ist sehr präzise, weil es ja auch sagt, dass man von der Täuschung, der man erlegen ist, befreit wird, also ent – täuscht. Auch wenn schmerzhafte Erfahrungen in dem Moment nicht leicht zu verwinden sind, hat es immer etwas gegeben, das ich im Nachhinein für mich fruchtbar gemacht habe. Ich möchte nicht bei der Enttäuschung oder dem Moment des Schmerzes stehenbleiben. Ich möchte das Gefühl verwandeln und zu etwas Neuem formen.

 „Kleidung hat eine faszinierende 
Wirkung auf mich.“

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André Kaczmarczyk

André Kaczmarczyks Augenfarbe changiert zwischen grau, grün und blau. Er gehört zur dritten Generation Ost. Er ist 1,80 Meter groß, spricht Englisch, Französisch und Polnisch und beherrscht den thüringischen und sächsischen Dialekt. Er singt Bariton und Tenor, tanzt Ballett, steppt, kann fechten und reiten. 

Essen lässt er lieber geschehen, als dass er selber kocht. In den sozialen Medien sucht man ihn vergeblich. Beim Gaming ist Candy Crush sein „guilty pleasure“. Er treibt Sport im Studio, um den Anstrengungen auf der Bühne gerecht zu werden. Aktuell probiert er Pilates aus. Wenn er in Urlaub fährt, dann als Kulturreisender. Das letzte Mal war er vor drei Jahren sechs Wochen lang in Italien und schwärmt seitdem von den Arcaden in Bologna, einer Stadt, die er eigentlich gar nicht besuchen wollte. Seine Stimme ist gefragt, nicht nur als Hörspielsprecher, sondern auch für Internetclips. 

 „Die Schauspielkunst ist mein Leben. Dahinter steckt kein geheimer Zauber.“ 

War die Jessica in „Der Kaufmann von Vendig“ in Dresden Deine erste Frauenrolle?

Auf einer so großen Bühne auf jeden Fall. In diesem Fall war es allerdings nichts Besonderes –
das Regiekonzept orientierte sich damals an einer traditionellen Shakespeare-Besetzung, wo historisch immer nur Männer auf der Bühne standen. Ich habe damals die kleine Tochter gespielt.

Als König Richard III. standst Du vor der Herausforderung, die kreatürliche Benachteiligung des Herrschers und seine obsessive Machtlust schauspielerisch umzusetzen. Wie funktioniert das und wie stehst Du selbst zur Macht? 

Richards Äußeres zu formen war eine besondere Herausforderung. Dem Regieteam war wichtig, für die Besonderheit, von der Richard und die anderen Figuren sprechen, eine Entsprechung zu finden. Zentraler für die Arbeit war allerdings die Frage, wie sich das Monströse seines Charakters äußert und sich die abgründige Hässlichkeit seiner Gedanken darstellen lässt. Bei der Frage nach der Macht, stellt sich mir die Frage: Macht wozu? Macht kann einen auch in eine formende Gestalt bringen. Ich weiß nicht, ob ich ein Machtmensch bin, aber ich führe auch Regie. Macht zu haben, heißt auch, Verantwortung zu übernehmen. Sich in einer machtvollen Situation zu befinden, generiert Möglichkeiten, selbst gestalten zu können und Entscheidungen zu treffen.

Seit Januar 2022 spielst Du den Kommissar Vincent Ross im „Polizeiruf 110“. Die ARD sprach vom ersten genderfluiden Kommissar. Ich kann aber nicht erkennen, dass Du in Deiner Rolle Deine Geschlechtsidentität veränderst und zwischen allen möglichen Geschlechtern wechselst …

Das Adjektiv ist in der Tat missverständlich und ich gebrauche es auch in diesem Zusammenhang nicht. Vincent Ross tritt in Erscheinung, wie Vincent Ross es eben tut – weitere Antworten geben die Filme und Drehbücher bisher erst einmal nicht. Das Aussehen mag besonders erscheinen im Hinblick auf Geschlechterrollen und die Reflektion derselben. Aber es ist nur ein Puzzleteil der Persönlichkeit dieser Figur. Und dabei wahrscheinlich nicht einmal der interessanteste oder etwas, worauf man Vincent Ross hinunter reduzieren sollte.

2016/17 wurdest Du festes Ensemblemitglied im Schauspielhaus und lebst in Flingern. Bist Du heimisch geworden in Düsseldorf?

Mittlerweile habe ich nur noch einen Gastvertrag mit dem Schauspielhaus wegen meiner Arbeit beim Film. Wir drehen in Berlin, in Frankfurt an der Oder und quer durch die Republik. Obwohl ich im Moment einerseits weg möchte aus Düsseldorf, merke ich andererseits, dass ich inzwischen sehr gerne hier lebe. Am Anfang habe ich doch ziemlich gefremdelt. Inzwischen genieße ich die kurzen Wege, das entspannte Sein. Mein Viertel habe ich total gerne. Ich weiß nicht, ob es das verflixte siebte Jahr ist und man da einfach durch muss. Vielleicht ist es auch einfach Zeit für einen Ortswechsel. München gefällt mir, wegen seiner Nähe zu Italien. Aber auch Köln hat wunderbare Seiten. 

Du führst aktuell Regie in „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren von F. K. Waechter nach den Brüdern Grimm“ − ein Kinder- und Familienstück ab sechs Jahren. Du hast das Verhältnis von Regisseur und Schauspielern einmal mit einer Eltern-Kind-Beziehung verglichen. Welche Vaterfigur verkörperst Du als Regisseur?

Es ist schwer, sich selber zu beschreiben und ich bezweifele inzwischen, dass die Vater-Mutter-Kind-Metapher dient. Ich bin durchaus bestimmend und habe auch sehr genaue Vorstellungen davon, wie ich es einmal probieren und sehen möchte. Da ich aber selber Schauspieler bin, ergreife ich auch immer Partei für die Spielenden. Ich hoffe, dass ich während der Proben ein liebevoller und zugewandter Regisseur bin und bin schon sehr gespannt auf die Premiere am 19. November.

Du stehst auf der Bühne, vor der Kamera, führst Regie, hast Du trotzdem noch Luft nach oben, Träume oder Wünsche? 

Alles, was hinzukommt, finde ich toll. Die ziemlich deutsche Grundmentalität „wenn man eines ist, muss man eines bleiben bis zum Ende seines Lebens“, die mag ich nicht so sehr. Aktuell bin ich Mentor von acht jungen Menschen aus Leipzig, die im Rahmen ihres Studiums am Schauspielhaus lernen. Ihnen gebe ich einmal in der Woche Chanson-Unterricht und unterrichte sie in Monologen oder Szenen. Aber ich kann mir auch vorstellen, für ein Magazin zu arbeiten und zu überlegen, welche Geschichten wollen wir erzählen, welche Bilder wollen wir zeigen. Oder als Intendant, um zu entscheiden: Was wollen wir unserem Publikum geben? 

Wenn Du drei Wünsche frei hättest, was würdest Du Dir wünschen?

Mein erster Wunsch wäre, dass ich mich unsichtbar machen könnte. Mein zweiter, dass ich fliegen kann. Davon träume ich oft nachts. Ich stoße mich von der Erde ab und fliege in den Himmel. Das ist ein irre gutes Bauchgefühl. Mein dritter Wunsch wäre, dass ich gerne selber entscheiden möchte, wann ich sterbe.

Susan Tuchel

Fotos: Alexander Vejnovic

„Die Bühne gewährt einem beides: Freiheit und Schutz.“

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Regisseur André Kaczmarczyk über die heilsame Abgründigkeit der Grimm’schen Märchen

„[…] Die Worte allein waren ein willkommenes, gierig aufgesogenes Futter für meine kindliche Phantasie und ließen einen Sturm der Imagination in mir toben. Dabei waren es vor allem zwei Dinge, die mich am meisten faszinierten: die detaillierte Erzählung des Bösen und Finsteren und die Schilderung von unerklärlichen, irrationalen und rätselhaften Dingen. Wieder und wieder wollte ich hören und lesen vom bösen Wolf, dem der Bauch aufgeschnitten wird, um das Gute daraus zu befreien; vom Rumpelstilzchen, das sich vor Zorn und Wut selbst zerreißt; vom Frosch, der an die Wand geworfen wird, und von der Hexe, die im Ofen verbrennt. Wieder und wieder begegnen wollte ich dem abgeschlagenen Kopf des Pferdes Falada, der sprechen konnte; dem vergifteten Apfel, dem sprechenden Spiegel und dem gläsernen Sarg Schneewittchens; den geheimnisvollen Namensträgern Blaubart, Gevatter Tod und König Drosselbart. All das faszinierte mich schrecklich und jagte mir lustvolle Schauer über den Rücken.

Nicht unerheblich für meine Begeisterung für die dunklen und kryptischen Aspekte der Märchen war wohl, dass ich ein eher ängstliches und schüchternes Kind war. Wie oft hatte ich gehofft, einen gestiefelten Kater an meiner Seite zu haben oder selbst zu den Bremer Stadtmusikanten zu gehören? Wie oft hatte ich mir vorgestellt, dem tapferen Schneiderlein zu gleichen? Wie oft hatte ich mir gewünscht, eine Glückshaut zu tragen, die einem sogar den Weg in die Hölle leicht macht und ermöglicht, ohne Angst drei goldene Haare vom Teufelskopf zu pflücken? Denn das wiederkehrende Aufsuchen des Schreckens, die wiederholende Begegnung mit Grusel und Düsternis war eine Möglichkeit, immer wieder zu erleben, wie sich das Gute und Helle seinen Weg sucht und am Ende schließlich meistens triumphiert. Mit jedem Wiedererzählen der Geschichte wurde das Schreckliche etwas weniger schrecklich und das Unerklärliche etwas weniger unerklärlich. Mit jedem Wiedererzählen der Geschichte entstand eine Gewissheit, dass das Böse überwunden werden und das Gute siegen kann. Mit jedem Wiedererzählen der Geschichte wurden das Böse und das Gute in den Herzen und Handlungen der Figuren verständlicher und nachvollziehbarer. Und so – damals wie heute – ist das Lesen eines Märchens, als zöge man sich eine Glückshaut an gegen das Grauen und Gruseln in dieser Welt.“ *

* Quelle: www.dhaus.de

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