Die zweite Demokratie

Im September 1949 tagte zum ersten Mal der Deutsche Bundestag in Bonn. Damit begann die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zuvor waren bereits die Bundesländer entstanden. Die konstituierende Sitzung des NRW-Landtages am 2. Oktober 1946 fand in der Düsseldorfer Oper statt. Noch heute erinnert eine Tafel dort an die Gründungsfeier des Landes. Von Düsseldorf sollten weitere Impulse ausgehen, die das gesamte Land stark beeinflussten. Die Düsseldorfer Grundsätze vom 15. Juli 1949 zählen hierzu. Sie waren die Grundlage für die wirtschaftliche Ausrichtung im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft.

Deutscher Bundestag 1950 © Bundesarchiv

„Bonn ist nicht Weimar“, so lautete der Titel eines Buches, das im Jahr 1956 erschien. Der Autor war der Schweizer Journalist Fritz René Allemann, der als junger Student in Berlin das Ende der Weimarer Republik miterlebt hatte. Das Buch Allemanns analysiert das politische System der jungen Bundesrepublik Deutschland Mitte der 1950er Jahre. Er kommt zu einem positiven Urteil und bescheinigt dem neuen Staatswesen im Vergleich zur ersten deutschen Demokratie eine hohe politische Stabilität. „Bonn ist nicht Weimar“ wurde zum geflügelten Wort, um den Erfolg der zweiten Demokratiebildung auf deutschem Boden zu erfassen. Und bis heute haben die Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland immer wieder die Belastbarkeit und Anpassungsfähigkeit der Bonner Republik herausgestellt. Was heute als Erfolgsgeschichte gilt, war bei Gründung des Staates im Spätsommer 1949 alles andere als selbstverständlich. Nach Diktatur, Krieg und Besatzung startete die erste Bundesregierung im September 1949 mit einer anspruchsvollen Agenda. Dabei war zum Start völlig unklar, ob nicht bald in Bonn wieder Weimarer Verhältnisse einziehen würden.

Gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen

In Westdeutschland lebten 1949 rund 50 Millionen Menschen, so viele wie noch niemals zuvor. Durch den Zuzug der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Ostgebieten war die Einwohnerzahl rasant gestiegen; in der Bundesrepublik allein um mehr als zwanzig Prozent – und dieser Prozess war 1949 noch nicht abgeschlossen. Würden diese Menschen sich in den neuen Staat integrieren lassen oder war mit der Vertreibung so vieler Menschen der politische Neustart unmöglich? Wo konnte den Vertriebenen eine neue Heimat gegeben werden?

Kinder aus den unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten kommen in einer der westalliierten Besatzungszonen an. (August 1948) © Bundesarchiv

Handwagen deutscher Vertriebener © Deutsches Historisches Museum, Berlin

Fast 30 Prozent der Wohnungen waren durch Kriegseinwirkungen zerstört oder nicht bewohnbar. Besonders in den Städten war auf Jahre die Unterbringung so vieler Menschen völlig ungelöst. Und die wirtschaftlichen Grunddaten verhießen alles andere als einen massiven Aufschwung: Bis 1949 waren mehr als 600 Industrieunternehmen in den Westzonen demontiert worden. Im Winter 1949/50 stieg die Arbeitslosenquote auf 13 Prozent. Wie konnte nach dem Verlust der vor allem landwirtschaftlich genutzten Gebiete im Osten die Ernährung der Bevölkerung gesichert werden? Angesichts dieser zahlreichen Probleme war der Erfolg der jungen Demokratie nach 1949 völlig ungewiss.

Erfolgsfaktoren der jungen Bundesrepublik Deutschland

Keine Bundesregierung stand vor so großen Problemen, die gelöst werden mussten. Schon nach kurzer Zeit stellten sich grundlegende Verbesserungen für alle Schichten der Gesellschaft ein. Zwei Faktoren spielten hierbei eine ganz entscheidende Rolle: – die Entscheidung für das Wirtschaftssystem der sozialen Marktwirtschaft – die Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer.

Konrad Adenauer © Bundesarchiv

Entscheidung für die soziale Marktwirtschaft

Die theoretischen Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft waren bereits vor 1945 erarbeitet. Ihre Umsetzung in der praktischen Wirtschaftspolitik stand aber noch aus. In den Jahren nach Kriegsende war nicht klar, ob das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft bei den politischen Entscheidungsträgern mehrheitsfähig werden könnte. Die SPD befürwortete die Verstaatlichung von Großunternehmen aller Branchen; ihr Ziel war ein staatlich gelenktes Wirtschaftssystem. Auch innerhalb der CDU war das wirtschaftspolitische Denken von vergleichbaren Ideen geprägt. Das Ahlener Programm von Februar 1947 trug den Titel „CDU überwindet Kapitalismus und Marxismus“. Erst sukzessive setzten sich marktwirtschaftliche Konzepte durch. Die „Düsseldorfer Leitsätze“ vom 15. Juli 1949 waren schließlich der Durchbruch zum Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft.

Die Wahl zum ersten Deutschen Bundestag wurde damit zu einer Art Plebiszit über die neue Wirtschaftsordnung. Marktwirtschaft oder sozialistische Gemeinwirtschaft – dies war das große Thema des Wahlkampfes gewesen. Am 15. September 1949 wurde Konrad Adenauer mit 202 Stimmen gegen 145 Nein-Stimmen zum Bundeskanzler gewählt. Mit Ludwig Erhard stellte die CDU den Wirtschaftsminister, der über 14 Jahre das Ressort führte und der der eigentliche Exponent der sozialen Marktwirtschaft werden sollte. Schon 1950 zeigten sich die ersten Erfolge einer marktwirtschaftlichen Politik: Außenhandel und Binnenwirtschaft florierten in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß. Zwischen 1950 bis 1958 stieg das Bruttosozialprodukt jährlich im Durchschnitt um 7,9 Prozent. In dieser Zeit entstanden vier Millionen neue Arbeitsplätze; die Arbeitslosenquote sank unter ein Prozent. Das Wirtschaftswachstum sorgte für hohe Reallohnsteigerungen und Konsumraten, die bei allen Schichten der Gesellschaft ankamen. Die rasante wirtschaftliche Erholung stabilisierte die noch junge Bundesrepublik schnell und nachhaltig. Auf diese Weise wurden die Millionen Vertriebenen rasch integriert, der Wohnungsbau forciert, so dass am Ende der 1950er Jahre die Spuren des Weltkrieges kaum noch das Bild der Städte prägten. Die robuste Wirtschaftsverfassung veränderte die Gesellschaft. Sie nahm Abschied vom klassischen Proletariat und wurde zu einer Mittelstandsgesellschaft, die „Wohlstand für alle“ nicht nur propagierte, sondern zur Tatsache werden ließ.

Ludwig Erhard mit seinem Buch Wohlstand für Alle © Bundesarchiv

Adenauer als Bundeskanzler Den Reichskanzlern der Weimarer Republik fehlte es an Ausstrahlung und Persönlichkeitsstärke, um als Integrationspersonen weite Teile der Gesellschaft zu überzeugen und sie an die Demokratie heranzuführen. Der Mangel an Führungsstärke der Reichskanzler war mit ein Grund für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie. Mit Konrad Adenauer stand ein Mann als Regierungschef parat, der über Integrationskraft und Autorität weit über die Reihen der eigenen Parteifreunde hinaus verfügte. Mit diesem Patriarchen, der bei Regierungsantritt bereits 73 Jahre alt war, war eine Persönlichkeit gewählt, die Vertrauen stiftete – und zwar im In- und Ausland. Es ist schwer vorstellbar, dass die Bonner Republik nach dem Desaster des Dritten Reiches so schnell wieder die Aufnahme in die Völkergemeinschaft geschafft hätte ohne diesen Mann. Und der Bekanntheitsgrad und die Popularität Adenauers sind bis heute geblieben.

Seit 1950 stellt das Meinungsforschungsinstitut Allensbach alljährlich dieselbe Frage: „Welcher große Deutsche hat Ihrer Meinung nach am meisten für Deutschland geleistet?“ Seit 1958 lautet die Antwort in der alten Bundesrepublik Deutschland wie heute im wiedervereinigten Deutschland: Konrad Adenauer.

Wahlkampfplakat der CDU

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