„Reden, die die Bundesrepublik bewegten“ – so lautet der Titel eines Buches von Horst Ferdinand aus dem Jahr 1988. Die letzte Rede stammt von Richard von Weizsäcker: seine Ansprache zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, gehalten am 8. Mai 1985 im Bundestag. Eine Rede, die um die Welt ging. Ihre Wirkung zeigte sich im In- und Ausland. Sie wurde millionenfach gedruckt, in 13 Sprachen übersetzt und nimmt in historischen Darstellungen zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und in den Memoiren politischer Zeitgenossen bis heute einen festen Platz ein.

„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
Richard von Weizsäcker (c) Bundesarchiv, Beitragsbild: US-Präsident Ronald Reagan mit Kanzler Helmut Schmidt und Richard von Weizsacker am Checkpoint Charlie
Ein Blick zurück – und nach vorn
Reden zum Kriegsende gab es in beiden deutschen Staaten bereits wenige Jahre nach 1945. Doch die Bewertung des 8. Mai 1945 fiel unterschiedlich aus. In Ost-Berlin wurde dieser Tag als „Tag der Befreiung“ und staatlicher Feiertag begangen – als Legitimationssymbol für das SED-Regime. In der Bundesrepublik hingegen standen lange Zeit Begriffe wie Zusammenbruch, Verlust der Heimat, Vertreibung und Teilung des Landes im Vordergrund.
Der Bundespräsident betont, dass der 8. Mai 1945 für die Deutschen kein Tag zum Feiern gewesen sei: „Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft.“ Und doch wurde – so von Weizsäcker – immer klarer: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
Nie zuvor hatte ein deutsches Staatsoberhaupt diesem Tag eine derartige Wertung gegeben. Der Bundespräsident sprach vom 8. Mai als Ende eines Irrweges der deutschen Geschichte und als Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Er erinnerte an die Opfer des NS-Regimes, sah in diesem Tag einen tiefen historischen Einschnitt und den Ausgangspunkt für die Spaltung Europas in zwei politische Systeme. Mit dem Ende des Krieges sei aber auch eine Friedenssehnsucht in den Herzen der Menschen geweckt worden, die „stärker war als nach anderen Kriegen“. Ein Biograf bezeichnete die Rede als Geschichtserzählung und Standortbestimmung: Sie sei Trauerarbeit und Totenklage, Vergegenwärtigung der von Deutschland verübten Schrecknisse und Meditation über Schuld und Unschuld.
Schuld ist nie kollektiv
Von Weizsäcker machte in seiner Rede deutlich, dass es in Deutschland möglich gewesen sei, die Verbrechen der Nationalsozialisten frühzeitig zu erkennen. „Wer seine Ohren und Augen aufmachte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten …“ Er kritisierte das verbreitete Wegsehen und das bewusste Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen – auch bei seiner eigenen Generation, die zwar jung gewesen sei, aber nicht unbeteiligt. „Schuld“, so betonte der Bundespräsident, „gibt es nicht kollektiv, sondern nur persönlich“. Deshalb sei der 8. Mai für jeden Einzelnen eine Gelegenheit, sich im Stillen selbst zu fragen, wie sehr er verstrickt gewesen sei. Für viele Menschen, die 1985 den Nationalsozialismus und den Krieg noch bewusst erlebt hatten, war die Rede ein Appell zur Selbstprüfung. Von Weizsäcker erinnerte sich später selbstkritisch: „Kaum einer von uns, die wir die damalige Zeit als Erwachsene erlebten, war davon wirklich ganz frei – auch ich nicht.“
Trotz einiger abweichender Bewertungen wurde die Rede im In- und Ausland überwiegend als ehrliche Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit der Jahre 1933 bis 1945 aufgenommen.
Woher rührt die Wirkkraft dieser Rede?
Wie bei jeder guten Rede sind es der Inhalt, die rhetorischen Mittel und der Vortragsstil und schließlich die Person des Redners. Die Sätze sind kurz und prägnant, Fremdwörter und Anglizismen kommen nicht vor, dafür geht von Weizsäcker in den Dialog mit seinen Zuhörern. Diese inhaltliche Offenheit seiner Gedanken gibt der Rede auch 80 Jahre nach Kriegsende eine zeitlose Aktualität.