Die Erprobung der Langsamkeit

Slow Food steht für genussvolles, bewusstes und regionales Essen und kommt aus Italien. Slow Acting steht für die bewusste Verlangsamung, für Sprachgefühl, Stimme und Ausdruck und kommt aus Düsseldorf. Erfunden haben diese Methode Wolfgang Keuter und Gianni Sarto. Sie bieten in ihrem Theater auf dem Campus in Golzheim Schauspiel-Training, Slow Acting-Workshops und Sprechtrainings an. Wir nehmen an einem Slow Acting-Workshop teil.

Noch nie habe ich auf einer Bühne eine Szene improvisiert. Wolfgang Keuter, hinten im Raum, gibt kurze Anweisungen. „Spielt eine Begegnung im Zug. Ihr habt euch 20 Jahre nicht gesehen“ oder „Ihr seid Bewohner in einem Pflegeheim und unterhaltet euch“.  Wir stehen jeweils zu zweit auf der Bühne, spielen kurze Szenen, tanzen zwar nicht unseren Namen, aber bewegen uns im Raum, konzentrieren uns einmal auf unsere Knie, einmal auf unsere Füße, einmal auf unsere Ellenbogen, intonieren hihi, hoho oder haha oder lachen schallend. Wir spielen ohne Worte „Wut“, „Begierde“ und „Melancholie“ auf der schwarzen Bühne. Wir sind zu acht und hinsichtlich Alter und Herkunft divers. Am Ende des Workshops sind wir zu einer Gruppe geworden, die sich viel zu sagen hat. 

Wie kommt man auf die Idee, eine eigene Theatermethode zu erfinden und was macht sie aus? Wolfgang Keuter und Gianni Sarto wollten der Schnelllebigkeit der Sprache und des Ausdrucks etwas entgegensetzen. 1985, ein Jahr vor der Slow Food-Bewegung, gründeten sie den Verein Theaterlabor Traumgesicht. Seit 2010 leben die beiden in Düsseldorf und fanden vor drei Jahren ein Zuhause für ihre Wirkungsstätte in der ehemaligen Fachhochschule in Golzheim. 

Angefangen hat alles im Weltkloster Johanneshof im südlichen Hochschwarzwald. „Das war die Keimzelle meines paratheatralischen Theaters der Langsamkeit. Ich habe das Weltkloster über ein Jahr geleitet und war zuständig für Tages- und Übungsstrukturen und Meditationszeiten sowie für therapeutische und künstlerische Prozesse“, erinnert sich Keuter. Heute leitet ein japanischer Zen-Meister das nun buddhistische Kloster. 

Gianni Sarto ist Kostüm- und Maskenbildner. Er arbeitete an der Oper in München, begann Kimonos für den hiesigen Markt zu entwerfen, setzte sich mit der japanischen Kultur auseinander. Nach einer Krebserkrankung setzte für ihn eine neue Zeitrechnung ein – mit mehr Ruhe und selbstverordneter Gelassenheit. Bei der Idee, ein Sprechtheater mit eigener Methode zu gründen, ergänzten sich die Professionen der beiden perfekt. Keuter übernahm Regie, Schauspiel und Psychodrama, Sarto ist für Maske, Kostüm, Foto und Video zuständig. 

„Soweit wir wissen, sind wir die einzigen auf der Welt, die diese Methode praktizieren“, so Sarto. Das Theaterlabor ist das kleinste Kammertheater in Düsseldorf, steht zwar auf eigenen Beinen, wird als Kultureinrichtung der Stadt jedoch vom Kulturamt der Stadt, der Sparkassen-Kulturstiftung Rheinland und immer wieder auch von der Kunst- und Kulturstiftung der Stadtsparkasse Düsseldorf gefördert. „Mit Unterstützung der Stadtsparkassen-Stiftung konnten wir unser Schauspielprojekt ‚Wandlung21‘ dieses Jahr umsetzen und zu zwei Aufführungen bringen. Das Video dazu ist im Schnitt und wird vor Weihnachten noch online sichtbar werden“, so Sarto. Durch die Live-Streams von Theateraufführungen und Online-Sprechtrainings haben die Düsseldorfer Kulturschaffenden in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit nicht nur Zuschauer und Teilnehmer in ganz Deutschland, sondern auch in Kanada gewinnen können.

Nur etwas für Schauspieler? Keineswegs. Wer Langsamkeit, Präsenz, Resilienz und Authentizität mit Slow Acting auf der Bühne trainiert, nimmt das mit in den Alltag und in den Beruf. Die Workshops des Theaters sind deshalb auch als berufliche Weiterbildung anerkannt. „Die Teilnehmer kommen ins Gleichgewicht. Durch den meditativen Charakter ermöglicht die Methode ein Mehr an Sprachgefühl, Stimme und Ausdruck“, erklärt Keuter. Trainiert werden die individuellen Darstellungsmöglichkeiten u. a. durch extreme Verlangsamung, auch Expression, gebärdenhaften Ausdruck und Mimetik, vorgegebene Bewegungsabläufe und Handlungen, durch geführte Atmung, Stimme und Sprache. „Ein solides Handwerk auch für die Lebens-Bühne im Alltag. Die Basis von Slow Acting besteht aus dem Zen, aus Methoden verschiedener Theaterschulen, z. B. Stanislawski, Brecht, Chevov, Methoden aus Initiatischer Therapie, Gestaltpsychologie und Psychodrama. Die Wurzeln reichen bis zu alten Mysterienspielen und Wandlungsritualen“, ergänzt Keuter.

Herzstück des Theaterlabors Traumgesicht ist das Schauspieltraining, das derzeit mit den geltenden Corona-Auflagen montags von 18.00 bis 21.00 Uhr stattfindet und bei dem noch einige Plätze frei sind. Für viele Bühnen-Affine ist das der Einstieg in eine Schauspielerkarriere. Einige Theaterlabor-Schauspielschülerinnen und Schauspielschüler haben im Laufe der Jahre Engagements an städtischen Bühnen bekommen.

Bei unserem Workshop im Oktober spreche ich mit einem jungen Mann, der bereits bundesweit in Videoproduktionen als Schauspieler am Set steht, nun aber stärker in die Schauspielerei einsteigen möchte. Alle drei bis vier Monate stellt das Theater dem Publikum ein Stück vor – als Krönung des Schauspiel-Trainings. „In dieser Spielzeit haben wir mit großem Erfolg das Stück ‚Wandlung21‘ aufgeführt mit Martin Pyka und Nicolai Karrasch, die bei uns eine schauspielerische Zusatzausbildung gemacht haben“, so Sarto. Das Zuschauerfeedback erfolgt nach jeder Aufführung über Fragebögen. Die Zuschauer reisen auch aus Gütersloh, München und Hamburg an.

© Gianni Sarto

Susan Tuchel in Aktion beim Slow Acting-Workshop

Sprechtrainings 

Jenseits von Selbstoptimierung gestaltet Wolfgang Keuter seine Sprechtraining-Workshops. Geübt wird Artikulation und stimmiges Atmen. Es geht um die Koordination von Ausdruck, Körperhaltung, Körpersprache, Atmung und Stimme. Zentral sind atem-rhythmische Bewegungen, geprägt von der Präsenz des eigenen Ausdrucks.
Jeweils am ersten Dienstag im Monat von 18:00 bis 19:30 Uhr.

Auch das gehört zur Theaterarbeit: neue Theaterstücke zu finden. Dabei hilft das Projekt Gutenberg, das 750 Theaterstücke umfasst, bei denen das Urheberrecht nicht mehr greift. „Wir lesen sehr viel, zitieren aus verschiedenen Stücken und schaffen dadurch etwas Neues“, betont Keuter. Die Projektplanung für 2022 läuft. Die Anträge sind gestellt, aber noch nicht bewilligt. Stillstand kennen die beiden Theaterleute jedoch nicht und bieten zu ihren Kursen und Trainings regelmäßig Lesungen und Filmabende an.

Susan Tuchel

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