Der mit 20.000 Euro dotierte Düsseldorfer Literaturpreis geht in diesem Jahr an den Schriftsteller Nico Bleutge. So begründet die Jury ihre Wahl: „Ein Leben endet, ein anderes beginnt, ein Mensch verstummt, ein anderer fängt an zu sprechen, unartikuliert noch, in einer Art Traumsprache, ein schemenhaftes Murmeln ist es, mit dem das Kind Antwort auf die Frage sucht: ‚was macht gorilla, was der elefant im schlaf‘? In seinem fünften Gedichtband „schlafbaum-variationen“ bewegt sich Nico Bleutge in den Randbereichen der Wahrnehmung. Dort, wo Schlafen und Wachen ineinander übergehen, wo Wörter sich kreuzen, wo Bilder einander überlagern, wo die Welt noch nicht in Plus und Minus geschieden ist, setzen Bleutges poetische Erkundungen ein und führen damit zugleich sein bisheriges Schaffen konsequent fort. In Zyklen von klanglichem Farbreichtum und rhythmischer Raffinesse spricht Bleutge vom Tod des Vaters, von der Geburt der eigenen Tochter, und davon, wie Erinnerungen an die eigene Kindheit in der neuen Rolle als Vater an die Oberfläche treten. Das Gestern und das Heute fließen in diesen vielgestaltigen Gedichten ineinander über und weiten mit einem ‚glucksen im bauch‘ den Blick in die Zukunft.“ 

Leben … 

Der Auftakt des Gedichtbandes widmet sich dem Lebensbeginn und nähert sich der neuen Existenz eines Babys auf lautmalerische Weise. Ein wohlgenährtes „quappiges“ Kind erzeugt Staunen und neugierige Blicken bei den Erwachsenen nicht zuletzt durch seine urwüchsigen Töne. Dabei reichen Nico Bleutge bekannte Begriffe nicht aus, um die Laute des jungen Menschen zu beschreiben. Es wird nicht nur geschmatzt, geblubbert und gegluckst, sondern sich „plitschernd“ der Mutterbrust genähert; Nico Bleutges Lyrik erschließt sich im ersten Teil seiner „schlafbaum-variationen“ vor allem intuitiv durch den Klang seiner Wortneuschöpfungen. Liest man weiter, wird klar, dass das Baby seine Tochter ist. So schiebt der Vater den Kinderwagen, reist mit dem Kind ans Meer und hockt in einer Sand-Rand-Zone zwischen Land und Wasser, wo Kinder sich Sand in den Mund stopfen, Kinderreime werden variiert: „ich mach dir einen hut aus gras, aus sieben enden dreie, aus sieben enden stücker zehn, die schieb ich dir ins freie.“ Und immer wieder wird der Schlaf thematisiert. Nach dem als „gäumlings“ beschriebenen Gähnen der Tochter folgt der Schlaf, der viele Fragen aufwirft: Was das Kind wohl erlebt beim nächtlichen Murmeln? Gibt es Träume mit Zootieren, die nicht zum Kuscheln taugen? Was macht der Gorilla, der Elefant im Schlaf? 

Mit vielfältigen und variantenreichen Stilmitteln offenbaren Nico Bleutges Gedichte viele Aspekte und Bezüge. Als würde man als Kind die Welt neu entdecken. Dabei verbindet er seine Gedichtkunst mit der bildenden Kunst, mit Bildern von Dalí und Magritte, auch weil diese Werke dem verstorbenen Vater des Dichters wichtig waren. 

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Der Düsseldorfer Literaturpreis

Der Düsseldorfer Literaturpreis wurde zum 22. Mal von der Kunst- und Kulturstiftung der Stadtsparkasse Düsseldorf vergeben. Er zeichnet Autorinnen und Autoren aus, deren deutschsprachiges literarisches Werk inhaltlich oder formal Bezug auf andere Künste nimmt. Bisher wurden einundzwanzig Autorinnen und Autoren damit ausgezeichnet, darunter: Patrick Roth, Christoph Peters, Thomas Kling, Katharina Hacker, Ulrich Peltzer, Ursula Krechel, Michael Köhlmeier, Marcel Beyer, Marion Poschmann, Jackie Thomae oder zuletzt Emine Sevgi Özdamar. 

… und Sterben

Der Tod des Vaters und die Besuche im Klinikum werden dann auch zum zentralen Thema des zweiten Buchteils.  Wie nah der Dichter seinem Vater gestanden hat, lässt sich dabei nur erahnen. Seine Lyrik zeigt jedoch, dass Erinnern auch heißt, sich seiner Verluste bewusst zu werden. 

In dem Gedicht „besuche im Klinikum“ befasst sich Bleutge in mehreren Strophen mit  Besuchen bei einem Sterbenden oder Toten: „das ist der mann / der liegt in der klinik in Regensburg“. Die Beschreibung des Mannes wird kontrastiert durch Bilder des „jungen mit cowboyhut / der in der dampflok sitzt“. Bilder, die aus einem Super-8-Film stammen könnten, denn das Gedicht spricht von einem „projektor, der den film abspult“. 

Was sieht man dabei und wer sieht wen? Hat der Verstorbene den Sohn gefilmt, der sich nun im Angesicht des Toten an den lebenden Vater erinnert? Während der Vater aus der Welt geschieden ist, hält der Sohn ihn in seinen Versen noch für einen Moment fest, so wie der Vater den Jungen einstmals im Film für einen Moment festhalten wollte. „das ist ein kopf der bewegt sich kaum
das ist eine welt aus gesetzen, verschenkt an den jungen mit dem cowboyhut der schnell die lok versenkt die durch die landschaft fällt an den projektor denkt in dem der film, der fluß schon rückwärts spult auf daß der plan erscheint der zeigt den raum und kurz den mann der liegt in Regensburg sechs tage lang.“

Neben den Menschen spielen zahlreiche Tiere die Hauptrolle in den Gedichten von Nico Bleutge. Überall scheinen die Tiere durch die Zeilen zu fliegen, allen voran Vögel: Krähen ebenso wie Stare, die des Nachts die Schlafbäume besiedeln und von Falken bedroht werden. 

Bei der Preisverleihung des Düsseldorfer Literaturpreises durch die Stadtsparkasse Düsseldorf lüftete Nico Bleutge das Geheimnis um die „Schlafbäume“ in der „Stadt am Tiber“. Es sind die Pinien in Rom, auf denen sich Tausende von Staren bei ihrem Flug ins südliche Winterquartier eine Pause gönnen. Und er erzählt, dass die Stadt Rom Falken einsetzt, um die Stare als Schmutz verursachende Störenfriede zu vertreiben. 

Darüber hinaus bevölkern Löwen, Fledermäuse, Hasen, Elefanten, Insekten, Fische und Giraffen seine Gedichte, darunter sogar die brennende Giraffe aus dem Gemälde von Salvador Dalí. Die Tiere sind oft klügere, dem Menschen überlegene Wesen, die mit naturalistischen Tieren weniger gemein haben als mit den mythischen Tieren der Antike oder den Fabelwesen. „atmen die Tiere mit. gürteltier wandert, löwe sieht sich noch einmal um …“

Alexandra von Hirschfeld

hufe zählen

sich elefanten denken, weit in ein untergehendes rot, sich
ihre beine denken, lang und gestreckt.
die schwere ihrer rauhen füße, wie sie im ziehen, schmal
und schmaler werden. rot, das nicht im Kopf sitzt. nicht
in den hügeln. heben sich glieder. Beine. heben sich weit
in dieses oben schweben schwerer steine. räume
ein jeder hat sein ding. als ob es knöchel wären. ziehen kleiner
sehnen. spüren sie schatten? spüren gewicht? ins
rot versenken. sich. in diese müdigkeit begeben. Wachsein
tiefere blässe. die elefanten harren aus, inmitten von steinen
schwebender leere. langer schlaf in den gelenken
nicht mehr zurückkönnen, durch blaue lippen,
blaue finger, blaue adern auf den nasenflügeln, rotgeränderte
sicht. ahnung von fehlen, von verdunkeltsein
hat keines mehr. die abzählbaren runden. wie alles gelbe
sich verliert. was mit den tönen kommt. rotes gewebe
rote luft. die mulden. klein. ihr beben. und proben fallen ab
die weit sich, über diesem boden, halten. im tauschen
zuhalten auf das rot. rot. rot. rot. rot. die elefanten
harren aus. verbleiben. solange sich die flanken heben senken.
nicht ausgemacht. die hügel. sie zu erreichen.

 

Aus Nico Bleutge
schlafbaum-variationen, Gedichte

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Der Preisträger

Nico Bleutge wurde am 13. Oktober 1972 in München geboren und wuchs in Pfaffenhofen an der Ilm auf. Seine ersten Gedichte schrieb er bereits im Alter von fünfzehn Jahren. Von 1993 bis 1998 studierte er Neuere Deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie in Tübingen. Seine Gedichte wurden in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht und übersetzt. 2006 debütierte er mit dem Gedichtband „klare konturen“. Seit 2001 arbeitet er zudem als freier Literaturkritiker unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, den Tagesspiegel, Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur. Nico Bleutge lebt in Berlin.

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