Europa ist ein Dauerbrenner – und ein Dauerproblem. Ein Kontinent im Krisenmodus: Brexit, Ukraine-Krieg, Migration, Schulden, wirtschaftliche Schwankungen. Doch Europa ist auch eine Erfolgsgeschichte: Rechtsstaaten, Frieden, Freizügigkeit, Wohlstand, Bildung. Doch was bedeutet Europa für uns wirklich? Mythos? Geschichte? Monster? Vorsichtig ausgedrückt: Ein Projekt, das nie fertig wird?
Beginnen wir vor der Haustür: Mettmann, knapp 20 Minuten von Düsseldorf entfernt. Hier fand man den Schädelknochen des ersten Europäers – des Neandertalers. Ein Urahn, der einst zwischen den Kalksteinfelsen lebte und von der Migration während der Steinzeit überrollt wurde. Der Homo sapiens kam aus Afrika – der Neandertaler verschwand bis auf wenige Gene, die er den Eingewanderten mit auf den Weg gab. Europa ist seit den Frühmenschen ein Prozess von Austausch, Konkurrenz, Vermischung. Im Fall des Neandertalers ist aber immer von Menschwerdung oder Menschheit die Rede, nicht von Europa oder dessen Ureinwohnern. Rückständigkeit wird eben ungern als Erbe angenommen.
Wie sieht es heute vor unserer Haustür aus? Düsseldorf ist Schauplatz globaler Entwicklungen. Rund 20 Prozent der Einwohner besitzen keinen deutschen Pass. Hier leben Italiener, Franzosen, Polen, aber auch Japaner, Araber und Türken sowie Menschen aus vielen anderen Ländern – die Stadt am Rhein bekennt sich zur Weltoffenheit.
Krisen, Kriege, Zeitenwenden
Trotzdem – oder gerade deswegen – Europa wackelt. Das Wort „Krise“ gehört längst zur Standardausstattung europäischer Rhetorik. Der Brexit war ein Schock, der Krieg in der Ukraine ist es noch immer. Hinzu kommen Pandemie, Inflation und Sorgen in Parteien und in Teilen der Bevölkerung über das Erstarken der Rechtskonservativen in Frankreich, Italien und auch in Deutschland. In den unverbrüchlich erscheinenden Bindungen innerhalb der Europäischen Union und in den Beziehungen zum transatlantischen Partner USA treten neuerdings Risse zutage. In Kanada denkt man über den politischen Anschluss an Europa nach. NRW und speziell Düsseldorf spüren die Auswirkungen von Krisen, Kriegen und Zeitenwenden direkt. Der Export schwächelt und die Abhängigkeit von chinesischen Lieferketten sorgt für Nervosität in den Chefetagen der Unternehmen. Die Rheinmetropole als Knotenpunkt für Handel und Dienstleistung reagiert empfindlich – wenn Europa hustet, steigt in Düsseldorf das Fieber.
Wertegemeinschaft oder technokratisches Monster?
Doch was hält Europa zusammen? Politiker sprechen gerne von einer „Wertegemeinschaft“. Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat. Klingt gut – aber was, wenn der polnische Nachbar andere Vorstellungen hat und Rumänien nicht richtig wählt? Und wenn die Bürokratie in Brüssel wieder eine Verordnung oder Richtlinie erlässt, die keiner versteht? Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger nannte die EU einmal eine „sanfte Monsterkrake“, welche die Bürger ohne direkte Gewaltanwendung entmündige. In seinem Buch „Sanftes Monster Brüssel“ (2011) beschrieb der kluge Beobachter die EU als ein bürokratisches Gebilde, das mit gut gemeinter Regulierung immer mehr Macht an sich ziehe. Entscheidungen würden in Brüssel oder Straßburg in Kommissionen und Hinterzimmern getroffen, weit weg von der Lebensrealität der Bürger. Die „Entmündigung Europas“ erfolge zwar ohne Gewalt, sei aber dennoch gefährlich, weil sie das Vertrauen der Menschen in die Demokratie aushöhle.

Mythen Europa – von Homer bis Umberto Eco
Europa beruft sich seit den Anfängen auf seine Mythen. Zur Erinnerung: Der Olympier Zeus verwandelte sich in einen Stier und trug die schöne Jungfrau Europa auf seinem Rücken nach Kreta, wo er den Erdteil nach ihr benannte – so erzählt es Homer. Historisch belegbar ist das nicht, aber es zeigt: Europa war nie nur Politik, sondern eine wandlungsfähige Konstruktion. Der Humanist Erasmus von Rotterdam (1466-1536), der Namensgeber des beliebten akademischen Austauschprogramms mit über einer Million Stipendien, setzte bei seiner Europakonzeption auf die Trias von Bildung, Kommunikation und Reisen. Düsseldorfern ist dieser Geist nicht wesensfremd. Die Stadt pflegt Partnerschaften mit Warschau, Palermo, Moskau (derzeit auf Eis), Toulouse und Chongqing.
Der Theologe und Kartograph Heinrich Bünting zeichnete einige Jahrzehnte nach Erasmus von Rotterdam den Kontinent als Jungfrau ohne Fehl und Tadel. Das Spanien der Habsburger erschien ihm als Krone, das heimische Brandenburg hingegen als das Herz Europas. Um 1800 träumte der romantische Dichter Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, von der Einheit eines christlichen Europas. Sie gelte es zu bewahren und zu erneuern. Der Semiotiker und Romancier Umberto Eco (1932-2016) sah in Europa vor allem einen Hort der Kreativität und der Kultur. Er betonte, dass der Kontinent seine Identität nicht in nationaler Stärke, sondern im Umgang mit seiner sprachlichen Vielfalt gefunden habe. Europas Eigenart sei es, mit vielen Sprachen und Kulturen leben zu können, statt alles in ein Einheitsmodell pressen zu wollen.

Heinrich Bünting, Europa in Gestalt einer Jungfrau, 1582 (Quelle Wikipedia)
Wirtschaftliche Realität: der Standort kämpft
Doch Europa ist längst nicht nur Kultur, sondern knallharte Ökonomie. Die EU ist der größte Binnenmarkt der Welt – doch China, Russland und die USA setzen Europa wirtschaftlich unter Druck. Deutschland als Exportnation spürt das besonders, Düsseldorf als Handels- und Finanzzentrum ebenfalls. Henkel und die Metro – die großen Namen haben hier ihre Sitze, doch die Herausforderungen sind enorm: Digitalisierung, Energiewende, Lieferkettenprobleme. Neueste Studien zeigen, dass die Wirtschaftsleistung der EU seit Jahren langsamer wächst als die der USA und Chinas. Laut Eurostat lag das Wachstum der EU-Wirtschaft 2024 bei mageren 0,7 Prozent, während die USA auf 2,8 Prozent kamen. Ministerpräsident Hendrik Wüst fordert daher, Europa müsse unabhängiger werden von China und mehr investieren in erneuerbare Energien und Digitalisierung. Auch für Verteidigung und Infrastruktur sollen in der Bundesrepublik hunderte Milliarden Euro aufgenommen werden. Doch das bedeutet Schulden und so wächst auch die Gefahr, in schwer kalkulierbare Abhängigkeit von den Finanzmärkten zu geraten.
Netzwerk-Europa statt Superstaat?
Die Frage ist also: Wohin steuert Europa? Ein Bundesstaat wie die USA – oder ein lockeres, national geprägtes Bündnis von Staaten und Regionen? Marcel Hénaff, ein französischer Philosoph, meinte: Die Europäer hätten nie wirklich ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Das unterscheide sie von den Amerikanern oder Chinesen. Der Brexit sei dafür nur das sichtbarste Symptom. Die Brüsseler Bürokratie arbeitet zwar an einem Räderwerk zur Vereinheitlichung. Vielleicht liegt die Zukunft Europas eher in der Leistungsfähigkeit und dem Gestaltungswillen seiner Metropolen und Regionen – in NRW also in Städten wie Düsseldorf, Köln, Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund, Bielefeld und ihren zahlreichen Partnerstädten überall in der Welt. Ein Europa der urbanen und institutionellen Netzwerke, der Universitäten, Unternehmen, Kultur- und Kreativkräfte. Keine bürokratisch-uniforme Einheit, sondern Vielfalt, die sich ergänzt und entwickelt. Europa war, ist und bleibt ein Flickenteppich. Die Wirtschaft lebt vom Handel über Grenzen hinweg, Wissenschaft und Kultur vom weltweiten Austausch. Die Bürger leben den europäischen Alltag. Vielleicht ist gerade das ja das wahre europäische Erbe – immer in Bewegung, immer im Wandel. Und der Neandertaler? Der wäre heute vielleicht Pendler zwischen Mettmann und Brüssel.