Es herrscht Krieg

Europa mitsamt seinen Verbündeten ist in Aufruhr und alarmiert – und das deutlich mehr als früher zur Zeit der Jugoslawienkriege. Deutschland hat sich solidarisch erklärt mit der Ukraine und zahlt energiepolitisch gerade die Zeche für die prorussische Energiepolitik der Regierung Merkel. Unsere Freiheit wird nicht mehr am Hindukusch verteidigt. Dieser Mythos ist kläglich gescheitert und daher nicht mehr der Rede wert. Unsere Freiheit wird jetzt in Kiew verteidigt, wovon wir uns wieder etwas,vielleicht sogar etwas mehr, versprechen. Geraten wir durch den Angriffskrieg Russlands womöglich in ein gefährliches Fahrwasser? Wird nach 77 Jahren Frieden das Thema Krieg für uns wieder „gesellschaftsfähig“? Der Präsident des Institutes für Internationale Kommunikation (iik) Prof. Dr. Helmut Brall-Tuchel warnt vor einer neuen Mythisierung des Krieges.

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DIE MYTHISIERUNG DES KRIEGES

Der Krieg ist in den Medien und in der Öffentlichkeit all- gegenwärtig. Militärexperten schießen wie Pilze aus dem Bo- den und surfen auf der medialen Welle. Politiker, die Panzer besteigen und den Kriegsgebieten behelmte Besuche abstat- ten, setzen medienwirksame Zeichen der Unterstützung und der wachsenden Wehrbereitschaft. Militärische Leistungen werden von uns wieder gefeiert, die Kriegsverbrechen der russischen Invasoren angeprangert. Am Krieg der Meinungen, der den der Waffen begleitet, beteiligen wir uns außerordentlich eifrig.

„Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.“

Aischylos

Nur hin und wieder können sich grundsätzliche Einsprüche gegen die Kriegsführung als Mittel der Konfliktlösung Gehör verschaffen. Denn Pazifisten haben ein kommunikatives Problem: Nur am Kriegsende, nur unmittelbar nach Niederlagen, inmitten von Trümmerlandschaften und angesichts von Leichenbergen will niemand mehr etwas vom Krieg wissen. Doch sobald oder solange Kriege in einer gewissen räumlichen Distanz zu uns stattfinden, schlägt uns ihre Theatralik in den Bann. Krieg wird seit der Ilias des Homer medial zum grausamen Schauspiel erhoben und wir werden zu seinem engagierten Publikum. Doch die Erfahrungen des Krieges und die medialen Inszenierungen klaffen tatsächlich meilenweit auseinander. Mythisierungen des Krieges bedienen sich altbekannter Muster der Polarisierung: Freunde und Feinde, Helden und Dämonen, Verräter und Verratene, Besiegte und Sieger; die Rollen der Bösen und der Guten werden ininteressegeleiteter Sinngebungsarbeit festgeschrieben. Die je eigene Wahrnehmung, die „gefühlte“ oder gern auch die lenkende oder gelenkte Interpretation des Geschehens, bestimmt den Tenor der veröffentlichten Meinung. Es geht in diesem Spiel offenbar darum, Einfluss zu nehmen auf ein Geschehen, zu dem die Mythenproduzenten persönlich stets sicheren Abstand wahren. Wer hier mit von der Partie sein will, huldigt einem risikolosen Aktivismus.

Winke aus der Geschichte

Wie aber kann und soll man die Kluft zwischen den Realitäten und ihren medialen Inszenierungen überbrücken oder schließen? Welche andere Position als die des Aktivisten im Zuschauerraum wäre denn denkbar und im Konzert der Gesinnungen auch heute vertretbar? Ein Blick zurück in die Geschichte kann hier hilfreiche Winke geben: Wenn man die Erzählungen über den Krieg und das Töten –

und nichts anderes meint der Begriff des Epos ursprünglich – aus der Antike und dem Mittelalter danach befragt, welche Ursachen hier denn für den Ausbruch von Gewalt und Kriegen genannt werden, fällt die Antwort überraschend schlicht aus: Entweder sind es Missgunst, Kränkungen, ein leidendes Selbstgefühl, Benachteiligungen, die zum Bruch des Friedens führen oder es ist die Angst der Mächtigen, ihre Macht zu verlieren oder gemindert zu sehen. Beide Antriebe sind lichtscheu und werden deshalb mit politischen Phrasen und klingenden Mythen übertüncht. „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.“  Zu dieser Einsicht gelangte schon der griechische Tragödiendichter Aischylos (525-456 v. Chr.). Ob man nun Mythisierung, „Wahrheit höherer Ordnung“ (J. Assmann), Propaganda, Lüge oder „alternative Fakten“ sagt, der Krieg gilt – nicht unwidersprochen – als „Vater aller Dinge“. Gemeint ist damit das ungeheure Macht- und Veränderungspotential, das dem Krieg innewohnt. Das geflügelte Wort geht zurück auf den Vorsokratiker Heraklit: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge und der König aller. Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien.“ Dem Chronisten und Bischof Cosmas von Pragan der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert erschien der Krieg als „König allen Übels, Freund des Trugs, Feind der Treue“. Der antike Denker und der mittelalterliche Geschichtsschreiber gingen davon aus, dass nicht die Menschen über den Krieg verfügen, ihn gar rational einsetzen oder in ihrem Sinne steuern können. Ihnen war aus Erfahrung viel stärker als uns bewusst, dass der Krieg „ein König“, eine Macht eigener Provenienz ist, dass er über die Menschen herrscht und nicht umgekehrt die Menschen Herren sind über den Krieg. Er ist kein Gleichmacher wie der Tod, sondern ein Tyrann, der nur an der ihm eigenen Zerstörungskraft interessiert ist. Auch wenn auf der anderen Seite argumentiert wird: „Si vis pacem para bellum“ – wenn du nach Frieden strebst, rüste zum Krieg – darf man die Eigendynamik von Kriegen nicht unterschätzen.

„Der Krieg ist ein Vorgang, bei dem sich Menschen umbringen, die einander nicht kennen, und zwar zum Ruhm und Vorteil von Leuten, die sich kennen, aber nicht umbringen.“

Paul Valéry

 

Friedenswahrung der Tüchtigen

Dem Tüchtigen, sei es nun eine Person oder ein Staat, sei es aufgegeben, Unrecht zu unterlassen und abzuwehren, damit der Friede gewahrt bleibe. Das forderte schon Platon. Diesem Auftrag wäre sachlich nichts hinzuzufügen. Doch waren und sind Personen und Staaten und – das sei hinzugefügt – auch Rechtssysteme dieser hehren Aufgabe nicht immer gewachsen. Um das zu kaschieren, kommt es zur Erfindung von Gründen und Anlässen, die Kriegshandlungen anstacheln und legitimieren. Solchen von interessierter Seite ins Feld geführten Mythen lässt sich jedoch eine Aussage des Lyrikers und Philosophen Paul Valéry (1871- 1945) entgegenhalten, die zwischen den Nutznießern und den Opfern des Krieges wichtige Unterschiede sieht: „Der Krieg ist ein Vorgang, bei dem sich Menschen umbringen, die einander nicht kennen, und zwar zum Ruhm und zum Vorteil von Leuten, die einander kennen, aber sich nicht umbringen.“

Helmut Brall-Tuchel

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Helmut Brall-Tuchel

Prof. i. R. Dr. Helmut Brall-Tuchel lehrt Germanistik mit Schwerpunkt Transkulturalität sowie Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters. Er ist Präsident des Institutes für Internationale Kommunikation e. V. (iik) und Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zur Literatur- und Kulturgeschichte. Letzte Buchveröffentlichungen: Mit anderen Augen. Düsseldorf aus Sicht der Welt (2020), Von Christen, Juden und Heiden. Der niederrheinische Orientbericht (2019), Hochzeiten in transkultureller Perspektive (2016).

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