Georgien: ein Land zwischen Bergen und Blöcken
Kaukasus, Schwarzes Meer, Georgien, diese Begriffe sind hierzulande von Mythen umlagert, die den Zugang in diese Region zwischen den beiden Gebirgsketten des Kleinen und des Großen Kaukasus und zwischen den Blöcken des Westens und des Ostens zumindest nicht erleichtern. Dafür ist nicht nur der Blick von außen maßgeblich, vielmehr erfüllte der Nimbus der Unzugänglichkeit für das Land eine wichtige Schutzfunktion. Denn über Jahrhunderte hinweg wurde Georgien von vielen mächtigen Invasoren heimgesucht. Wir entschieden uns für eine Reise mit dem Rucksack in die georgische Provinz Swanetien.
Wehrhaft und gefährlich?
Wehrhaftigkeit und Abgeschlossenheit waren und sind aufgrund der Wirkmächtigkeit von Narrativen immer noch wesentliche Elemente des Selbst- und Fremdbildes in Georgien – und wohl auch im benachbarten Armenien. Weder dem Makedonier Alexander dem Großen noch dem Mongolen Dschinghis Khan gelang es, dieses Land und seine Bewohner mit Kriegsgewalt zu unterwerfen. Gesandte wie Johannes von Plano Carpini (um 1185-1252), Kundschafter wie Marco Polo (um 1254-1324) und Abenteurer wie der Verfasser des Niederrheinischen Orientberichts (um 1350) lieferten dem Westen jene Informationen und Eindrücke über Land und Leute, die von Literaten wie Alexandre Dumas in seinem populären Reisebericht „Gefährliche Reise durch den wilden Kaukasus“ (1858-1859) aufgegriffen und verstärkt wurden.
Wer sich davon nicht abschrecken lässt – und dazu sei ausdrücklich geraten – kann heute von deutschen Flughäfen aus problemlos und nur mit Reisepass oder Personalausweis versehen die Hauptstadt Georgiens, Tiflis oder Tbilisi, und die alte Königsstadt Kutaisi im Westen erreichen. Unsere kleine Reisegruppe landete mit erheblicher Verspätung in Kutaisi, um nach sehr kurzer Nacht zu einer Trekkingtour aufzubrechen. Nach der recht strengen Einreisekontrolle ist der heutige Tourist froh und erleichtert, wenn seine ersten und auch seine weiteren Schritte ins Land von kundiger Seite vorbereitet und auch begleitet werden. Denn Schrift, Sprache und Gepflogenheiten des Landes erschließen sich dem Reisenden nicht unmittelbar. Eine ganze Reihe von gut geführten Unternehmen der Reisebranche in Deutschland und Georgien haben sich in dieser Nische etabliert. Unser Guide, Bergführer, Reisemarschall, Dolmetscher und Anführer Davit Rekhiashvili stand mit Fahrer und Bus am Flughafen Kutaisi trotz der langen Verspätung mitten in der Nacht bereit, um unsere kleine Bergwandergruppe unter seine Fittiche zu nehmen.
Je höher die Berge …
Kutaisi ist der Ausgangspunkt für Wanderungen in der Region Swanetien, deren Einwohner Swanen genannt werden. Die Trekkingreise führt zu hochgelegenen Dörfern wie Betscho, Ezeri, Adischi und Ushguli, wo in einfachen Gasthäusern übernachtet wird. Wir bewegen uns auf knapp 2000 Meter Höhe mit Blick auf die schneebedeckten Gipfel der Fünftausender. Wie schon bei Dumas nachzulesen, wird der Fremde wirklich überall gastlich empfangen und großartig bewirtet. Je höher die Berge, je einfacher die Verhältnisse, umso liebenswürdiger die Einheimischen. Die romantische Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Unverstelltheit der Natur und Gastfreundschaft der Einwohner, hier kommt sie vollends auf ihre Kosten.
Einige Bequemlichkeiten des modernen Tourismus‘ sind auch in den Bergen Swanetiens nicht zu verachten. Das Gepäck der Reisenden wird im Jeep oder Bus zum nächsten Ort transportiert, ortskundige Begleiter gesellen sich bei schwierigen Passagen zur Gruppe, exzellente Fahrer meistern selbst schwierigste Pisten, die nach den nicht seltenen Erdrutschen immer wieder neu gebahnt werden müssen. Nicht von ungefähr machen sich die eingangs beschriebenen Narrative im Kopf bemerkbar: steile Wege, hohe Pässe, dünne Luft. Eine gute Kondition und wie man heute sagt, Resilienz gegenüber den Härten des Daseins, ist hilfreich, um hier zu bestehen und zu verstehen.
Denn die Gespräche mit dem Guide, den Gastgebern und Begleitern machen begreiflich, dass sich das Leben zwischen den Bergketten und den politischen Blöcken von außen nur schwer beurteilen lässt. Seit dem Jahr 1991 aufgrund demokratischer Wahlen wieder als unabhängiger Staat Georgien etabliert, sind die politischen Orientierungen im Land unübersichtlich. Geprägt von der Unterdrückung durch den übermächtigen Nachbarn und seine Annexionen trifft man auf eine ausgeprägte Feindschaft gegenüber Russland, dessen Flüchtlinge man zu Tausenden aufgenommen hat. Andere wiederum sprechen sich trotz schrecklicher Kriegserfahrungen für einen ausgleichenden Kurs gegenüber den politischen Verlockungen des Westens und den militärischen Drohungen Moskaus aus. Die wiedergewonnene Unabhängigkeit zu wahren ist jedoch das Band, das die Georgier im Lande und in der Welt miteinander verbindet.
Ein Land im Aufbruch
Auch der Tourist kann spüren, dass Georgien ein Land im Aufbruch ist. Überall wird gehämmert, gesägt und gespachtelt. Das triste Gewand der Sowjetzeit tritt in manchen Plattenbausiedlungen noch in Erscheinung, doch kann dies mit der Restaurierung der Kirchen, der Wehrtürme und der historischen Bauten auf dem Land nicht mithalten. Was in einer Stadt wie Tiflis vielleicht allzu modernistisch wirken mag, im einen oder anderen Fall gar an Las Vegas erinnert, findet auf dem Lande sein traditionsbewusstes Gegenstück. Hier teilt man sich die Fernstraße noch mit grasenden Rindern und freilaufenden Schweinen, an jenen fährt man vorn, an diesen hinten vorbei. Überhaupt ist die Entdeckung der Langsamkeit und die Fähigkeit zur Improvisation angesagt. Wer noch nie auf ein Pferd gestiegen ist, wird es hier tun müssen, um über eine Furt im Wildfluss zu gelangen. Wer noch nie ein riesiges Feld mit blühenden Bergrhododendren gesehen hat, wird es hier staunend bewundern. Auf reißenden Wildflüssen sieht man keine wagemutigen Kanuten, die Gipfel des Kaukasus wie der Ushba (4737 m, der Name bedeutet „schrecklicher Berg“) im Nationalpark Elbrus werden nur von den besten Bergsteigern erreicht. Und seit Jahrhunderten begleiten Hunde, erschreckend große und wendige kleine Tiere, die Wanderer von einem Ort zum anderen und erwarten als Dank am Zielort Nahrung aus freundlicher Hand. Mit Wanderern in der Gegenrichtung laufen sie zu ihrem Heimatort zurück.
Einer alten Fabel zufolge hat Georgien sich in einen undurchdringlichen Nebel gehüllt, wenn es mit militärischer Macht bedroht wurde. Vor friedlichen Besuchern scheint der Nebel sich freiwillig zu verziehen.