Pilgern war in der Vor-Corona-Zeit schon in Mode. Shirley MacLaine, Paulo Coelho und Hape Kerkeling haben den beschwerlichen Weg nach Santiago de Compostela populär gemacht. Nach der Pandemie sind Reiselust und Pilgerfahrt eher noch beliebter geworden. Doch Herbergen und Pilgerstätten sind überlaufen. Von diesem Übertourismus unberührt scheint der Heilige Berg Athos in Griechenland zu sein, das Pilgerziel der orthodoxen Christenheit. Unser Autor Helmut Brall-Tuchel hat sich auf den Weg zum Gipfel des Athos gemacht und dabei seine Einstellung zu einer Republik von Männern, zum Pilgerwesen und seiner Phantasie auf eine harte Probe gestellt.

Auf dem Gipfel des Athos

Rund 2000 orthodoxe Mönche bevölkern heute die Halbinsel Athos, eine autonome Mönchsrepublik mit ca. 20 Großklöstern, 12 kleineren Klöstern und einer Reihe von Einsiedlern, deren Hütten an den steil abfallenden Felswänden kleben. Frauen haben hier keinen Zutritt. Diese Landzunge im Westen Griechenlands ist nur Männern, seien es nun Mönche oder Pilger, vorbehalten. Der Legende zufolge darf keine andere Frau nach der Gottesmutter höchstpersönlich ihren Fuß auf den Heiligen Berg setzen. Die Exklusivität des Ortes wird vornehmlich durch diese Bedingung aufrechterhalten. Weiterhin ist die Zahl nichtorthodoxer Pilger strikt auf sechs Personen pro Tag kontingentiert. Eingehalten oder kontrolliert wird diese Regel freilich nicht. Per Telefon und persönlicher Bekanntschaft mit einem Mönch oder Gastgebermönch, der sich um die ankommenden Pilger kümmert und ihnen die Unterkunft zuweist, lassen sich bürokratische Hürden schon einmal überwinden. 

Basislager für den Besuch des Heiligen Berges ist das Städtchen Ouranopolis. Hier auf der Halbinsel Chalkidike verläuft südlich des Hafens die Grenze zur autonomen Mönchsrepublik, die man nur über den Fährverkehr zu den Anlegestellen der Klöster erreicht. Einen Landweg, gar eine Straße dorthin, gibt es nicht. Das Ende der vertrauten Welt wird für den Besucher durch die vorgelagerten Eselsinseln, eine Vielzahl von Restaurants und Souvenirläden, viele Hotels und Unterkünfte sowie die Anwesenheit von Frauen nicht zu einer psychischen Belastung. Unsere Pilgergruppe fühlte sich bei Efi im Hotel Filoxenia gut aufgehoben. Efi spricht Deutsch und ist in Düsseldorf an der Hüttenstraße aufgewachsen. 

Aufbruch

Das Abenteuer auf der Männerinsel beginnt in aller Frühe. Schon vor sechs Uhr öffnet das Pilgerbüro, in dem das Visum (Diamonitirion) vergeben wird. Eine Horde meist älterer Männer und einige Mönche stehen bereits Schlange vor dem Büro. In einer Stunde legt die Fähre ab. Personalien und Reservierungen müssen geprüft, Tickets noch gekauft, die Anlegestelle erreicht werden. Kaum zu schaffen, denkt man. Zwischenzeitlich ist auch Efi am Pilgerbüro eingetroffen. Unauffällig, aber effizient schaut sie nach dem Rechten. Dann geht es erstaunlich schnell. Unsere Namen werden aufgerufen, der Betrag für das Visum wird eingezogen – wer sich auf Anfrage als religiöser Mensch bezeichnet, erhält Rabatt – und die Dokumente werden ausgehändigt. 

Was macht den Reiz dieser Reise zum Heiligen Berg aus? 

Vom Schiff aus sieht der Heilige Berg unerreichbar aus. Wenn die Wolken, die gegen ihn drängen, den Gipfel freigeben, versteht man, warum der Athos dieser Region seinen Namen und seinen Charakter aufdrückt. Die Gipfelpyramide mit einer Höhe von 2033 Metern über dem Meeresspiegel zieht alle Blicke auf sich, hier noch stärker als sonst im Gebirge. Unter ihm liegt eine Reihe teils hinter Hügeln versteckter, teils in die Hänge eingeschmiegter oder von Felsspornen aufragender Klosterbauten.

Landwirtschaftsminister Cem Özdemir ließ unlängst im evangelischen Magazin Chrismon etwas „von der radikalen Fremdheit dieser klösterlichen Welt (Die Zeremonien! Die Einfachheit! Die Ruhe!)“ verlauten. Er und seine journalistischen Begleiter auf der Pilgerreise, gute Freunde seit Schulzeiten, schwelgten denn auch in grün-alternativen Utopien, zeigten sich hingerissen vom Dienst der Mönche für Gott und die Welt und von ihrem eigenen Auftrag. Diese Gefühle kann man teilen, muss man aber nicht.

Denn es gibt beachtliche Bautätigkeit an vielen Stellen der Region, der Lärm von Maschinen und das Geschrei von Maultiertreibern sind nicht zu überhören, ebenso wenig wie der lebhafte Fährverkehr. Die Stille muss man hier wie andernorts erst einmal suchen und Ruhe findet man ohnehin am besten in sich selbst. Mit der Einfachheit hat man es leichter. Die Unterkünfte, die der Pilger zugewiesen erhält, wenn er sich denn erfolgreich im Kloster angemeldet hat, verströmen den Charme von Behelfsheimen, mit abendlicher Einsperrung, doch immerhin mit morgendlicher Ausgangsmöglichkeit. Die sanitären Einrichtungen der Klöster sind auch bei Männergruppen von über fünfzig Personen aus allen orthodoxen Regionen der Welt mit einer Toilette und einer Dusche fast erträglich. Die Ausdünstungen der T-Shirts der ankommenden Pilger leider nicht. Nach alter Sitte reicht der Gastmönch den Pilgern bei der Ankunft Wasser gegen das Dehydrieren, Fruchtgelee gegen das Unterzuckern und einen Ouzo gegen das Auskühlen (oder die schlechte Laune?). Und schließlich die Zeremonien. Sie spielen sich zumeist im Verborgenen ab. Die Priester wenden den Gläubigen den Rücken zu, nachdem diese morgens um vier mit einer Glocke zum Gottesdienst gerufen worden sind. Während der Schnarchpegel in der Gemeinschaftsunterkunft sinkt, fährt er in den Betstühlen des Kirchenraums langsam hoch. Höhepunkte des Tages sind die Mahlzeiten. Manchmal werden sie im Kreis der Mönche, andernorts aber nur unter Pilgern eingenommen. Und selbstverständlich ist die Kost  vegan. Es gibt Linsen, Gurken, Tomaten, Oliven, Brot und Wasser. 

Als erster Rheinländer berichtete der aus Erkelenz stammende Ritter und Pilger Arnold von Harff gegen Ende des 15. Jahrhunderts über den Heiligen Berg Athos: „Und geradeaus über einen Golf fuhren wir zu einem Berg namens ‚Monte Sancte‘, auf dem 14000 griechische Mönche, Coleuri genannt, wohnen.“ Er wird die Klöster wohl nur vom Meer aus gesehen haben. Die Mönche wurden seinerzeit als „Calogeri“, als gute Alte, bezeichnet. Ein Besuch bei den guten alten Männern erschien ihm wohl nicht lohnend genug. Vielleicht war auch sein ausgeprägtes Interesse an Frauen für diese Entscheidung maßgebend. 

Bleibt also die Fremdheit! Der Athos ist das Museum einer vergangenen, einer untergegangenen Welt. Auch wenn jeder Mönch, den wir getroffen haben, ein Handy und ein Portemonnaie mit Bargeld und Kreditkarten bei sich hatte, ändert das nichts. Denn man kann – die Souvenir- und Devotionalienshops der größeren Klöster ausgenommen – hier mit Geld nichts anfangen, schon gar nicht die Bedürfnisse des alltäglichen Konsums befriedigen. Keine Zigaretten, keine Kaugummis. Wein bringen die Pilger sich häufig selber mit. Es gibt wenig Obst, kein Bier, kein Eis! Stattdessen hat man Zeit, in den schattigen Fluchten der Klosteranlagen die stilisierte Bilderwelt des orthodoxen Christentums zu entschlüsseln und hin und wieder mit einem Mönch zu plaudern, der Englisch spricht. Besonders kommunikativ scheint das Verhältnis zwischen Mönchen und Pilgern allerdings nicht zu sein. In den meisten Fällen wird der Pilger angehalten, den Vorschriften und Verhaltensanweisungen der Mönche Folge zu leisten, also die Hosenbeine herunterzukrempeln und nicht unangenehm aufzufallen. Pilgergruppen aus Osteuropa, von einem Mönch oder Priester angeführt, trifft man am häufigsten. Sie verbinden den Urlaub von zu Hause mit den Weihen der Spiritualität und dem Genuss der Schönheit der mediterranen Landschaft. 

 

 „Der Athos ist das Museum einer vergangenen, einer  untergegangenen Welt.“

Der Aufstieg

Auf dem Weg von der Skiti Agia Anna, einem der kleineren Klöster in Höhe von 350 Metern über dem Meeresspiegel, hoch zum Gipfel werden wir immer wieder von solchen Gruppen orthodoxer Pilger überholt. Schwere Zweifel keimen in uns auf. Übertourismus auch hier? Hätte man mehr trainieren sollen, hat man sich zu viel zugemutet? Wir tragen mehr Gepäck, denn unser Ziel ist es, auf dem Gipfel des Athos den Untergang und den Aufgang der Sonne zu erleben. Vor dem letzten großen Anstieg, in 1500 Meter Höhe, treffen wir die Pilgergruppen auf einer Alm mit einer kleinen Kapelle, der Panagia, wieder. Rund um das düstere Gebäude gelagert, schlafen die meisten Männer am helllichten Tag auf dem nackten Steinboden. Die letzte Nacht war ja auch kurz genug.

Wir nutzen die Gunst der Stunde für den letzten Aufstieg. In steilen Serpentinen geht es noch einmal 500 Höhenmeter hinauf. Oben angekommen umschwirren uns gefühlt eine Milliarde Fliegen. Das Gipfelplateau ist mit Pilgern überfüllt, der Zustand der Sanitäranlage unaussprechlich. Gibt es diesen wunderbaren Ort, von dem man gelesen und geträumt hat, doch nur in der eigenen Phantasie? Wer Geduld hat und sich von seiner Enttäuschung nicht gleich übermannen lässt, wird am Ende belohnt: Die Fliegenwolken werden dünner, die Pilger suchen im Abstieg die Panagia oder das nächste Kloster auf, das Plateau leert sich allmählich. Ein kosmisches Gefühl stellt sich ein. Die Welt unter uns versinkt und taucht mit dem ersten Morgenlicht wieder auf. Die Abwesenheit aller Einflüsse und Faktoren macht diese wenigen Stunden so einzigartig. Dafür nimmt man vieles in Kauf. Entbehrung, Anstrengung, Erschöpfung, Enttäuschung und nicht zuletzt den tagelangen Muskelkater nach dem Abstieg vom Gipfel bis zum Fähranleger. Efi erwartet die Pilgergruppe schon im Filoxenia und die Annehmlichkeiten der Tourismusindustrie erleichtern die Wiedereingliederung in die moderne Zivilisation.

Helmut Brall-Tuchel

Der Eingangsbereich des Klosters Dionysion Agion Orous.

Im Kloster Russikon Panteleimonos.

Im Gespräch mit Efi Roussou aus Düsseldorf, Hotelière in Ouranopolis

Sie sind in Düsseldorfer an der Hüttenstraße aufgewachsen. Wie wurden Sie zur Hotelbesitzerin in Ouranopolis?

Efi Roussou: Das ist eine längere Geschichte. Meine Mutter starb 1984 an Krebs und mein Vater heiratete eine Griechin aus Ouranopolis. Von da an ging es jedes Jahr mit meinen zwei Schwestern hierhin in Urlaub. Nach meinem Abitur auf dem Görres-Gymnasium war ich zunächst ein Jahr in Amerika und habe dann für eine Softwarefirma gearbeitet. In Ouranopolis habe ich meinen Mann kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. 1992 sagte er: Wenn du jetzt wieder zurück nach Düsseldorf fährst, brauchst du nicht wiederzukommen. Also rief ich bei meinem Arbeitgeber an und blieb. 

Und das Hotel?

Efi Roussou: Das Hotel wurde 1987 als Familienbetrieb von meinen Schwiegereltern gebaut. Als mein Mann 2007 starb, habe ich das Hotel übernommen. So gesehen haben mich meine Schwiegereltern in der Erbfolge bevorzugt. Ich habe zwei Kinder, 29 und 24 Jahre, die die Tradition fortführen. 

Kommen zu Ihnen nur Pilger, also nur Männer? 

Efi Roussou: Nein, nicht nur. Von September bis März liegt der Anteil der Pilger allerdings bei 70 Prozent. Ab April und im Sommer kommen auch Familien zu uns. Viele mittlerweile als Stammgäste, weil sie die familiäre Atmosphäre unseres Hotels mit nur 22 Zimmern und die Gastfreundlichkeit schätzen.

Woher kommen die Pilger?

Efi Roussou: Die meisten aus Deutschland und Österreich, aber auch aus Rumänien, Bulgarien, aus Serbien und aus der Ukraine. Die Orthodoxen haben ihre eigenen Klöster auf dem Athos und sind neugierig. Manche wollen unbedingt den Berg besteigen. Einige bringen auch ihre Frauen mit. Die machen dann eine Kreuzfahrt und schauen sich den Athos vom Meer aus an.

Wie ist das Verhältnis der griechischen Frauen zum Athos?

Efi Roussou: Die Frauen sind nicht alle durch die Bank weg begeistert. Die Insel soll ja von der Muttergottes behütet sein und dann dürfen nur Männer und männliche Haustiere dort sein? Das können viele Griechinnen nicht nachvollziehen. Es gab auch schon Demonstrationen an der Grenze zur Mönchsrepublik.

Gibt es eine besondere Geschichte, seit Sie das Hotel Filoxenia führen?

Efi Roussou: Ja, es gibt eine australische Familie, die ich nun schon seit vielen Jahren kenne. Diese Familie hat griechische Wurzeln und zum College-Abschluss schenkten die Eltern ihrem Sohn eine Reise auf den Athos. Er kam zusammen mit seinen Cousins zu mir. Die Cousins kamen zurück, der Sohn jedoch blieb auf dem Athos. Die Eltern reisten an, die Mutter weinte viel. Der Vater durfte seinen Sohn anderthalb Jahre nicht sehen. Fünf Jahre später wurde er zum Mönch geweiht. Am Ende hat seine Mutter akzeptiert, dass er dort glücklich ist. Mittlerweile ist er zum Diakon geweiht worden.

 

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