Dem Vergessen entrissen

Wer auf Mallorca ist und die Insel erkundet, der trifft in Kirchen oder auch in der kreisrunden Festung, dem Castell de Bellver, hoch oben über der Hauptstadt Palma auf Denkmäler, Statuen und Inschriften zu Ehren des Mannes mit dem Nachnamen Llull (gesprochen Juj). Aber auch an anderen Stätten seines Wirkens begegnet man ihm auf der Baleareninsel: in Llucmajor, in Valdemossa und auf dem Puig Randa, wo er lehrte und meditierte. Ramon Llull (1232-1316) gilt als Vater der katalanischen Literatur und wird auf der Insel verehrt wie Goethe in Weimar.

Warum der Mann aus dem Mittelalter nicht nur für die Mallorquiner wichtig ist: Aktuell erlebt Ramon Llull eine Renaissance, weil Informatiker und die IT-Branche ihn als Gründervater eines logischen und vor allem eines mechanisch automatisierten Argumentierens entdeckt haben. Er gilt als großer Gelehrter, Dichter, Theologe, christlicher Universalist und wissenschaftlicher Wahrheitssucher mit katalanischer Bodenhaftung. Unbestritten ist die führende Rolle Ramon Llulls bei der Etablierung einer eigenständigen Literatur in der katalanischen Volkssprache, einer Sprache, die trotz ihrer neun bis zehn Millionen Muttersprachlern weder bei deepl.com noch in einem Medikamenten-Beipackzettel oder in einer Gebrauchsanweisung auftaucht.

Thomas Vila I Mayol Palma, 1893-1963, Ramon Llull, Esbós de giux
Donació de Maria Rotger Alemany a l#Ajuntament de Palma, 1965

Fotos: Helmut Brall-Tuchel

Visionär und Missionar

Dabei wurde ihm seine Karriere keineswegs in die Wiege gelegt. Geboren als Sohn eines Militärs im Dienste Jakobs des Eroberers (1208-1276), der Mallorca 1229 der islamischen Herrschaft entriss, war er für ein weltliches, ein höfisches Leben als Krieger und als Lehrer der Prinzen vorgesehen. Ramon Llull war verheiratet und hatte zwei Kinder mit seiner Frau Blanca und auch literarischen Erfolg mit seinen, dem Zeitgeschmack entsprechenden, trobadoresquen Liebesgedichten.

Im Alter von dreißig Jahren suchte Ramon, auch im Mittelalter nicht ungewöhnlich, eine schwere Lebenskrise heim. In verschiedenen Visionen erschien ihm Christus und gab ihm den Auftrag, sich vollständig in seinen Dienst zu stellen. Einer solch höheren Legitimation bedurfte es übrigens auch, um kirchenrechtlich gesehen aus dem ehelich gebundenen Laienstand ausbrechen zu können. Ramon Llull schlug diesen Weg ein und legte in den ihm verbleibenden 54 Lebensjahren (etwa der durchschnittlichen Lebenserwartung von Männern jener Zeit) als „erleuchteter Gelehrter“ im Auftrag Gottes eine wissenschaftliche und literarische Aktivität ohnegleichen an den Tag. Seine ca. 260 in Latein, Katalanisch und Arabisch verfassten Werke sind heute nur noch den Spezialisten in Palma, Barcelona und Freiburg i. Breisgau vertraut. Nur ein kleiner Teil seiner Werke liegt auch in deutscher Sprache vor.

Von aktueller Bedeutung sind sein „Buch von dem Heiden und den drei Weisen“, eine mustergültige interreligiöse Debatte und das „Buch vom Freunde und Geliebten“, in dem die aristokratische Liebespoesie der Zeit auf eine spirituelle Ebene gehoben wird. Man wundert sich, dass diverse und polyamore Communites unserer Zeit diesen Autor noch nicht für ihre Belange reklamiert haben.

Im Anschluss stürzte Ramon Llull sich in ein umtriebiges Reiseleben als Missionar der islamischen Völker. Großer Erfolg war ihm dabei nicht beschieden, im Gegenteil: Er saß mehrmals in nordafrikanischen Gefängnissen und war nicht selten auf der Flucht vor seinen Verfolgern. Als großer Gelehrter in Italien und Frankreich berühmt und nachgefragt, als katalanischer Dichter in seiner Heimat gefeiert, wäre er gern dem Orden der Franziskaner beigetreten. Doch sein weltliches Vorleben ließ dies nicht zu. Nachdem er auf seiner letzten Missionsreise nach Algerien von einer fanatischen Menge gesteinigt wurde, starb er hochbetagt auf einem Schiff kurz vor der Ankunft in Mallorca. Die Franziskaner von Palma de Mallorca nahmen den Leichnam Ramon Llulls in ihre Obhut und erkannten ihn damit postum als einen der ihren an.

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Das Grabmal Ramon Llulls

Sein Grabmal in der Basilika Sant Francesc in Palma, unweit der Touristenströme, wurde von dem Bildhauer Francesc Sagrera (Ende des 14. Jahrhunderts) geschaffen. In einer Gewölbenische der Kirche sieht man die Gestalt des Mallorquiners in frommer Gebetshaltung ruhen. Das christusähnliche Antlitz wirkt würdevoll und asketisch. Haar und Bart bedecken Schultern und Brust. Ein Sockelelement zu seinen Füßen und die gesamte Haltung sowie die schlichte, mönchisch anmutende Kleidung erwecken jedoch den Eindruck einer stehenden Figur. Horizontale und Vertikale befinden sich damit in einem symbolischen Gleichgewicht. Getragen wird der Sarkophag von einer Säulenreihe, in deren Nischen die Sieben Freien Künste stehen sollten. Allerdings wurde die geplante Figurengruppe nie ausgeführt. Rechts neben seinem Kopf liegt eine Schriftrolle als Zeichen seiner Gelehrsamkeit, auf der linken Seite des Körpers befinden sich florale Elemente. Die Kette an seinen Händen könnte als Sinnbild der im Gebet geschaffenen Verbindung mit Gott gedeutet werden. In einem Bogen über dem Sarkophag nehmen zwei Engel die Seele des Verstorbenen in Empfang, um sie in den Himmel zu geleiten. Wie häufig in der mittelalterlichen Bildsprache wird die Seele als nackter Säugling oder als kleines Kind dargestellt. Bezeichnenderweise kopiert die Seele die Gebetshaltung des Verstorbenen detailgenau.

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