Fotos: Jochen Rolfes
Zwei Leben
Treffpunkt ist das Atelier des Künstlers Michael Oliver Flüß in Hochdahl – ein modernes, lichtdurchflutetes Gebäude, das früher einmal eine Kirche war. Zwischen großformatigen Bildern, deren Farbe noch feucht ist, erzählt er von seinem Leben, das auf zwei Bühnen spielt: der Kunst und der Medizin. „Ich bewege mich gern an der Grenze“, sagt Flüß. Als Arzt denkt er analytisch, als Maler lässt er seine Motive atmen – inspiriert von Nam June Paik, dem legendären Professor der Düsseldorfer Kunstakademie, der einst seine Studenten warnte: „When too perfect lieber Gott böse.“
Er selbst sieht sich als chaotischen Perfektionisten. Sein Schaffen zeigt, was er damit meint. Flüß malt, was ihn fasziniert – stets mit einem Augenzwinkern: Er verbindet Tiere und Menschen, Natur, Wasser, Gebäude, Relikte, Sport, Bewegung – und manchmal auch Szenen mit Düsseldorf-Bezug: ob Fortuna-Spieler, Beuys mit Gepard am Zollhof oder Menschen auf der Königsallee im Stil der 1950er Jahre. „Was fertig ist, muss in die Welt“, sagt er. „Ich freue mich, wenn ein Bild einen anderen Raum findet und dort zu etwas Neuem wird.“
Seit beinahe vierzig Jahren ist Flüß der Malerei verfallen. Seine Werke sind gefragt – im Jahr entstehen 25 bis 30 Arbeiten, die meist schon vor der nächsten Ausstellung vergeben sind – an Sammler, Unternehmen, Galerien. Er ist ständig in Bewegung: Ausstellungen, Retrospektiven, neue Projekte. Seit einigen Jahren nimmt er auch Auftragsarbeiten an, zum Beispiel für Industrieunternehmen: Für eine Landtechnikfirma stand monatelang ein zentnerschwerer Pflug in seinem Atelier.
Sie gelten als „magischer Realist“ – also jemand, der das Reale verzaubert. Wann waren Sie das letzte Mal verzaubert?
Michael Oliver Flüß: Das Zauberhafte kann man überall finden, beim Anspitzen eines Bleistifts genauso wie beim Zelten in Spitzbergen. Ich glaube, die Haltung ist hier wichtiger als das Erlebnis selbst. Ich lasse mich einfach gern verzaubern.
„Oscars Orca“, 150 x 100 cm
Ist Kunst für Sie eher Therapie, Spiel oder Provokation?
Michael Oliver Flüß: Spiel, Spiel und nochmals Spiel. Ausprobieren, verwerfen, neu kombinieren, das sind meine Stärken. Es gibt großartige Provokateure in der Malerei, aber das war nie mein Ding.
Wie viele weiße Kittel haben Sie schon mit Farbe ruiniert?
Michael Oliver Flüß: Durch Zufall habe ich in den 80er Jahren Konrad Klapheck hier in Düsseldorf kennengelernt, der mich sehr beeinflusst hat, und der immer einen grauen Kittel bei der Arbeit trug. Das fand ich total unpraktisch. Ich bevorzuge Overalls.
Erinnern Sie sich noch an das erste Bild, das Sie gemalt haben – und wussten Sie da schon, dass das kein Hobby bleiben wird?
Michael Oliver Flüß: An DAS erste Bild habe ich keine Erinnerung, aber an das Gefühl nach der Fertigstellung, eine Art Euphorie. Ich wusste: Das werde ich mein ganzes Leben lang machen. Mir fällt eine Abschlussarbeit im Leistungskurs Kunst ein, die ausgestellt wurde und die mir mein Lehrer damals abkaufen wollte. Für unfassbare 50 D-Mark. Ich habe sie lieber behalten und sie nach vielen Jahren auf dem Dachboden wiedergefunden. Sie gefällt mir heute noch, was längst nicht immer der Fall ist.
„Wenn Zeit eine Farbe hätte, würde ich davon gerne mehr haben.“
Was treibt Sie an, zu malen?
Michael Oliver Flüß: Der Architekt Frank Lloyd Wright beantwortete die Frage eines Journalisten nach seiner besten Arbeit ungefähr so: die nächste. Das ist es, was mich motiviert: Die nächste stellt alles bisherige in den Schatten. Völlig klar, dass dem meist nicht so ist, aber die Chance besteht immerhin.
Wenn man Ihre Bilder anschaut, hat man das Gefühl, sie erzählen Geschichten zwischen Traum und Realität. Glauben Sie, dass Kunst die Wahrheit sagen muss – oder darf sie auch einfach schön lügen?
Michael Oliver Flüß: Die Frage aller Fragen: Wird Kunst durch Wahrheit gut? Ich denke an die Portraits der toten RAF-Terroristen von Gerhard Richter. Beeindruckendes Spiel mit der Wahrheit. Die Zeiten, in denen Malerei Dokumentationscharakter hatte wie bei Herrscherportraits als Heiratsanreiz sind vorbei.
Ihre Werke wirken oft wie eingefrorene Zwischenmomente – still, aber voller Spannung. Wollen Sie mit Ihren Bildern mehr zeigen, was sichtbar ist – oder was sonst keiner sieht?
Michael Oliver Flüß: Es gibt einen Dialog zwischen Sherlock Holmes und Doktor Watson. Holmes: „Wie oft haben Sie die Treppe zum Büro benutzt?“ Watson: „Unzählige Male.“ Holmes: „Wie viele Stufen?“ Mich interessiert das, was man jeden Tag zwar registriert, aber nicht beachtet. In diesen Zwischenmomenten spielen sich – oft absichtslos – die großen Entdeckungen ab. Es waren übrigens 17 Stufen.
Gibt es ein Motiv, das sich immer wieder in Ihr Leben malt, auch wenn Sie es gar nicht wollen? Wie zum Beispiel der Hirsch, der ist mir natürlich besonders aufgefallen.
Michael Oliver Flüß: Tiere mit Haaren. Ein Zufall brachte mich vor circa zehn Jahren auf ein Thema, das ich bis heute gern bearbeite. In einem Interview wurde mir die Frage gestellt: Was malen Sie als nächstes? Ich sagte einfach: „Tiere mit Haaren“. Das wurde zur Headline. Und es entwickelte sich eine wunderbare Kooperation mit einem Experten für Haartransplantation, der den Titel in der Zeitung entdeckte. Ich durfte seine Praxis mit Arbeiten aus dieser Serie ausstatten. Meine Frisur wurde dabei nicht thematisiert (lacht).
„Jupp am Zollhof“, 150 x 100 cm
Wann ist für Sie der Punkt erreicht, an dem ein Bild „fertig“ ist – oder sind Sie eher der Typ, der heimlich nachts nochmal drübergeht?
Michael Oliver Flüß: Perfektion ist dann erreicht, wenn man nichts mehr weglassen kann, sagt Antoine de Saint-Exupéry. Wenn ich also früher nachts heimlich noch mal drangegangen bin, konnte das am nächsten Morgen auch wieder verworfen werden.
Was ist schwieriger zu durchschauen: ein MRT-Bild oder der Mensch dahinter?
Michael Oliver Flüß: Das Bild und jedes seiner Details ist wichtig, WEIL dahinter immer ein Mensch steckt. Man muss das trotz beeindruckender Technik immer im Blick behalten. Das ist ein Lernprozess.
Würden Sie sagen, dass Radiologen die besseren Beobachter sind?
Michael Oliver Flüß: Radiologen sind nicht die besseren, aber andere Beobachter. Sie müssen die Nadel im Heuhaufen finden und trotzdem den Überblick behalten.
Zwischen medizinischer Diagnose und künstlerischer Deutung liegen Welten – wie überlebt man da als eine Person?
Michael Oliver Flüß: Der beste Weg für mich ist die strikte Trennung, es gibt fast keine Berührungspunkte. Fast keine. Manchmal glaube ich aber, dass die Beschäftigung mit Kunst den medizinischen Alltag menschlicher gestalten kann. Ich habe mich für den Bereich Bildgebung entschieden, von der Farbgebung eher monochrom, aber keineswegs monoton.
Sind Sie im Alltag eher der Kontrollierte oder der Spontane?
Michael Oliver Flüß: Sagen wir mal so: Ich bin ein spontaner Kontrollfreak.
Wenn Ihr Leben ein Gemälde wäre: Welche Farbe würde dominieren – und welche sollte endlich mehr Platz bekommen?
Michael Oliver Flüß: Mein Leben ist jetzt schon ziemlich bunt. Wenn Zeit eine Farbe hätte, würde ich davon gerne mehr haben.
Was haben Sie aus der Medizin fürs Leben gelernt – und was aus der Kunst fürs Überleben?
Michael Oliver Flüß: Demut und Demut.
Was läuft bei Ihnen im Atelier: Jazz, „Stille“ oder Heavy Metal?
Michael Oliver Flüß: Hängt davon ab. Beim Skizzieren und Ideensuchen eher Stille, beim Ausarbeiten kann mich Musik besser im Flow halten. Je nach Thema und Stimmung kann alles laufen, von Ella Fitzgerald bis Steve Reich. Aber auch SEEED. Rex Gildo eher nicht.
„Rosa II“, 160 x 120 cm
Wie viel Zufall darf in einem Bild passieren, bevor Sie einschreiten?
Michael Oliver Flüß: Zuerst habe ich einen Plan. Der wird dann dutzende Male revidiert. Dann steht ein Gerüst. Meine Erfahrung ist, wenn ich von diesem Plan zu weit abweiche, passieren die Katastrophen. Ich würde es eher einen kontrollierten Zufall nennen.
Gibt es ein Werk, das Sie heute völlig anders sehen als damals, als Sie es gemalt haben?
Michael Oliver Flüß: Eins? Einige. Wir gehen mal ins Bilderlager. Mein Blick zurück ist immer ziemlich kritisch.
Düsseldorf ist voller Kunst – wo finden Sie hier Inspiration abseits der Galerien?
Michael Oliver Flüß: Es gibt jede Menge großartige Künstler, die hier leben und arbeiten, Museen, Galerien, die Kunstakademie. Ich versuche, alles mitzunehmen, denn das ist eine riesige Inspiration für mich. Abseits des Kunstbetriebs bin ich gern am Rhein. Die Symbiose von Fluss und Stadt bringt mich in eine Art mentalen Leerlauf, aus dem Ideen wachsen.
Welches Bild in Ihrem Zuhause würden Sie selbst nie hergeben?
Michael Oliver Flüß: Die Portraits meiner Familie.
Wenn Sie einen Tag unsichtbar wären, wo würden Sie hingehen?
Michael Oliver Flüß: Ich würde nach Köln fahren. Ins Atelier von Gerhard Richter, um dort nach Herzenslust zu sehen.
Was glauben Sie: Ist das Leben eher Radiologie – also Analyse in Schichten – oder Malerei – also alles auf einmal?
Michael Oliver Flüß: Sedimente hüben wie drüben. Hier untersuche ich Schichten, dort arbeite ich in Lasurschichten. Manchmal sogar in Nachtschichten.
„Ophelia reloaded“, 120 x 100 cm
Wenn Sie morgen alles hinschmeißen würden – was würden Sie danach als Erstes tun?
Michael Oliver Flüß: Ein Bild über das Hinschmeißen malen, ist doch klar.
Wie reagiert Ihre Frau, wenn Sie sagen: „Ich male nur noch kurz“ – und es wird wieder Mitternacht?
Michael Oliver Flüß: Völlig gelassen. Ist nichts neues. Mitternacht? Morgengrauen! Ist aber inzwischen nur noch am Wochenende erlaubt.
Ihre Tiere wirken oft wie Fremdkörper in einer perfekten Kulisse – sind das Stellvertreter für uns Menschen, die auch dauernd am falschen Ort auftauchen?
Michael Oliver Flüß: Fremdkörper würde ich nicht sagen, sie gehören schon irgendwie dahin, sie wissen nur nicht, warum.
Wenn Ophelia auf einem Fisch reitet – ist das eine Parodie auf den Untergang oder eine Ode an die Absurdität des Lebens?
Michael Oliver Flüß: Es ist eine Ode an die Absurdität. In diesem Fall des Lebens, denn mit ihrem Freitod war ich überhaupt nicht einverstanden.
Shakespeare scheint bei Ihnen Stammgast im Atelier zu sein – verstehen Sie seine Frauenfiguren besser als seine Männerfiguren?
Michael Oliver Flüß: Mich interessieren beide, aber mit Frauen kann ich einfach besser arbeiten.
Wasser taucht in Ihren Bildern immer wieder auf – ist es für Sie Symbol für Leben, Gefahr oder einfach ein guter Spiegel?
Michael Oliver Flüß: Technisch gesehen ist Wasser immer eine besondere Herausforderung für die Malerei. Symbolisch gesehen ist es für mich der unsichere Grund, auf dem man sich – mit oder ohne Anmut – fortbewegt.
Wie sehr steuern Sie Ihre Motive – oder lassen Sie sie einfach treiben wie Wasser, das sich seinen Weg sucht?
Michael Oliver Flüß: Dazu fällt mir ein Zitat von Gerhard Richter ein, der sagte: „Meine Bilder sind schlauer als ich.“ Selten hat jemand das besser beschrieben. Die Bilder drängen sich fast auf, führen eine Zeit lang ihr Eigenleben und ich bin mal Regisseur und mal Statist.
Michael Oliver Flüß – sein Weg in kurzen Linien:
Nach Abitur und Zivildienst studierte Michael Oliver Flüß erst Chemie, dann Medizin und parallel Malerei bei HG Friese in Essen. Nachfolgend Ausstellungen, Presse, Lehrtätigkeit und Auszeichnungen. Während der Promotion arbeitete er nachts im Labor, tagsüber an der Akademie. Es folgten zwei Facharztausbildungen (Nuklearmedizin, Radiologie). In Jülich forschte er in einer Neuroscience-Arbeitsgruppe, umgeben von Linguisten, Psychologen und Philosophen – Philosophievorlesungen inklusive. Seit 2011 arbeitet er in einer Gemeinschaftspraxis für Radiologie und Nuklearmedizin in Düsseldorf. Sein Atelier-MOF hat er seit 2007 in Hochdahl.
