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Unerwartet offen
Zunächst ein Outing: Ja, ich war Fan. Als Kind samstagabends frischgebadet vor dem Fernseher, um nur ja nicht die ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck zu verpassen. Und dann betrat er die Bühne: blonde Föhnfrisur, seine Gesten, sein Akzent und jeder wusste und hörte: Der kommt aus Südafrika. Ende November betritt er im Henkel-Saal in Düsseldorf das Podium, noch nicht ganz 80 Jahre, wie er betont. Im Gespräch mit Maximilian Arland stellt er seine Autobiographie „Unerwartet. Mein Leben“ vor. Und dann erzählt der „nette Kerl“ von Missbrauch, Depressionen, Alkohol, Abstürzen und Neuanfängen.
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Howard Carpendale, Musiker
Das Kind, das niemand schützt
Howard Carpendale wächst in Durban auf, seine Nanny Betty ist schwarz, sein Vater Douglas ist Kaufmann und arbeitet für eine englische Tuch- und Herrenoberbekleidungsfirma. Sein Großvater mütterlicherseits war Bürgermeister von Durban. Als Kind ist Howard pummelig und ungelenk und dann passiert das, worüber manche ihr Leben lang schweigen: Ein Matrose missbraucht ihn. Seine Eltern lassen ihn mitgehen mit einem Bekannten des Vaters auf ein Schiff voller Matrosen, um einen Kinofilm zu sehen. Auf dem Rückweg gibt es einen Zwischenstopp auf einer Parkbank, die Pranke des Matrosen Archie wandert immer höher. Bis heute fragt sich Carpendale, warum ihn seine Eltern nicht beschützt haben.
Howard schießt in die Höhe, fängt an zu schwimmen, macht Leichtathletik, spielt Cricket und Rugby. Mit 13 Jahren ist er 1,85 Meter groß, mit 14 erlebt er seinen ersten Sex im Fahrstuhl. „Es war der langsame von den beiden Fahrstühlen“, wie er im Henkel-Saal lachend erzählt. Er singt in Bands, geht zum Militär und spürt: In Südafrika kann es für ihn nicht weitergehen. „Nach London zu gehen, war die mutigste Entscheidung in meinem Leben“, sagt er an diesem Abend.
Von London ins Rheinland
In London jobbt er, spielt im Casino und in Bands – und entdeckt in der Zeitschrift Melody Maker eine Anzeige „Band sucht Sänger“. Der erste Gig geht nach Düsseldorf. 1966 steht er im Liverpool Club in der Graf-Adolf-Straße in Düsseldorf auf der Bühne, in einem Kellerclub, in dem sich englische Soldaten, Altbier und Beatmusik mischen. Die Band spielt Beatles-Songs, Evergreens wie „The House of the Rising Sun“. Entertainment im Akkord, Nacht für Nacht. Der zweite Job führt ins Haus Waterkant in Norddeich, dann geht es nach Oberhausen. Die Band bricht auseinander. Mit tausend Mark in der Tasche fährt Howard mit brauner Hose, rotem Pullover und grünem Cordsamtsakko nach Köln zur Plattenfirma Electrola. In drei Wochen soll er zum Vorsingen kommen, mit 250 D-Mark Vorschuss für neue Kleidung entlässt ihn Mr Weidenfeld. 1970 nimmt er bei Electrola 12 Platten auf, zwei steigen in die Charts ein. Er gewinnt den Deutschen Schlagerwettbewerb und bekommt einen Zehnjahresvertrag bei Electrola. Er heiratet Claudia, 1977 kommt Sohn Wayne in Köln auf die Welt. Das Glück währt nicht lange. Claudia hat eine Affäre, Howard packt seine Reisetasche und fliegt zum Golfen. Erst nach Schottland, dann nach Miami. Dort lernt er in einem Club Donnice aus Mississippi kennen. Einen Monat später kommt sie nach Deutschland. 1980 geht er auf seine erste Deutschland-Tournee.
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Der perfekte Abschied – und die große Leere
2003 gibt Carpendale in Köln sein „letztes“ Konzert. Nach Außen ein „perfekter Abschied“ mit voller Halle, Applaus und Emotionen. Nach innen beginnt der stille Absturz. Carpendale lebt in Florida, im Golfresort Admirals Cove. Tagsüber Golf, abends Villa. Es klingt nach Erfolgsbilanz, fühlt sich aber immer mehr nach Stillstand an. Seine Partnerin Donnice trinkt, erst heimlich, dann offensichtlich. Als er sich beide Unterarme bricht, pflegt sie ihn liebevoll, doch als die Verbände abgenommen werden, verschwindet sie wieder in ihrer Welt. „Ich hasse Alkohol. Ich hasse den Geruch von Alkohol“, schreibt er. Carpendale vertraut einem Anlageberater, investiert Geld und verliert ein Drittel seines Vermögens. „Schlimmer als der finanzielle Verlust war die Tatsache, so hintergangen worden zu sein“, bilanziert er. Donnice geht 14 Mal in eine Entzugsklinik und trinkt weiter. Er selbst wird depressiv, isst kaum, funktioniert nur noch. „Dann kam Wayne am Heiligen Abend. Sechs Tage später ging ich mit ihm“, erzählt Carpendale im Henkel-Saal. Sein Sohn bringt ihn in eine Klinik nach München. Niemand erkennt ihn, niemand ruft die Boulevardpresse an. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist er einfach nur Patient. Ein Therapeut sagt ihm den Satz, der alles dreht: „Wenn du nicht auf die Bühne zurückkehrst, wirst du nicht mehr lange leben.“
2007 meldet er sich zurück, mietet sich in einem Hotel in Garmisch-Partenkirchen ein, arbeitet an seinem Comeback. 2008 startet seine neue Tour, aber die Depressionen sind noch da. Es kommt zum Bruch mit seinem langjährigen Manager Dieter Weidenfeld. Sein neuer Manager, Kai Maser, sortiert nicht nur Termine, sondern auch das Bild nach außen: „Howie“ wird gestrichen. Der Spitzname passt nicht mehr zu dem Mann, der vom Hitlieferanten zum Personality-Künstler werden will.
Perfektionist mit Orchester
Mit dem Royal Philharmonic Orchestra in London nimmt Carpendale die „Symphonie meines Lebens“ auf. Der blonde Sänger aus der ZDF-Hitparade sitzt plötzlich im Regieraum von Abbey Road und hört einem Weltklasseorchester dabei zu, wie es seine Melodien spielt. Sein Spätwerk lebt von dieser Mischung aus Nostalgie und Selbstkorrektur. Alte Hits werden neu gedacht, gegen den Strich gebürstet, mal mit Streichern, mal mit anderen Künstlern als Duettpartnern.
Und dann ist da noch Donnice. Die Frau, die trinkt. Die Frau, die er nicht aufgibt. Ihr Alkoholismus, die Entzüge, die Rückfälle – das Buch beschreibt sie ohne Schnörkel. Am Ende schafft sie den Ausstieg aus der Sucht. Heute sind sie sechs Jahre verheiratet. „Und wenn ich auf etwas in meinem Leben stolz bin, dann darauf, dass ich diese achtzehn Jahre durchgehalten und nie vergessen habe, was für ein liebenswerter und wunderbarer Mensch Donnice ist, wenn sie nicht trinkt“, schreibt er in seiner Autobiographie.
Im Henkel-Saal sitzt an diesem Abend kein glattpolierter Schlagerstar, sondern ein Mann, der sein Leben mit all den Brüchen nebeneinander stehen lässt: Der Titel „Unerwartet“ ist also wörtlich zu nehmen.
