Ein Tabuthema, das endlich gehört und gesehen werden muss
Als ich vor kurzer Zeit von einem Missbrauchsfall im Düsseldorfer Reitsportumfeld erfuhr, bei dem ein sehr junges Mädchen betroffen ist, wurde mir schlagartig anders. Seit vielen Jahren bewege ich mich im Reitsport, und jeder neue Fall macht mir bewusst, wie groß das Problem ist.
In Ställen hört man immer wieder von solchen Fällen – als Gerüchte, als Andeutungen auf Stallgassen, als flüsternde Warnungen. Trainer, die jungen Mädchen sagen: „Du darfst meine Pferde reiten – aber sei ein bisschen lieb zu mir.“ Reiterpartys, nach denen Minderjährige verstört nach Hause kommen. Ausbilder, die ihre Position nutzen, um Nähe einzufordern, Aufmerksamkeit zu verlangen oder Grenzen zu überschreiten. In vielen Reitställen gibt es eine Kultur des Wegschauens und des Schweigens, selbst dann, wenn alle etwas ahnen.
Der aktuelle Fall, über den ich aus dem direkten Umfeld erfahren habe, hat erneut etwas in mir ausgelöst. Vielleicht weil das Mädchen noch sehr jung war. Vielleicht auch, weil alle um sie herum erst spät realisiert haben, wie dringend Hilfe nötig war. Deshalb nehme ich diesen Vorfall zum Anlass, dieses Tabuthema erneut sichtbar zu machen, und auszusprechen, was viel zu oft verdrängt wird.
Der Reitsport lebt von Nähe und Vertrauen – zwischen Mensch und Pferd, zwischen Trainer und Schülerin. Und genau diese Nähe macht unseren Sport anfällig für Machtmissbrauch. Übergriffe entstehen nicht zufällig, sondern in Strukturen, die Abhängigkeiten begünstigen und Täter schützen. Die enge Bindung zu einem Trainer, das enorme Machtgefälle, der Wunsch, im Sport weiterzukommen, und die oft fehlende soziale Kontrolle in Ställen schaffen ein Umfeld, in dem Täter leicht Zugriff bekommen. Der Reitsport ist kein Einzelfall – er ist Teil eines größeren Problems. Laut einer Ulmer Studie sind im Breitensport hunderttausende Menschen betroffen, und im Forschungsprojekt „Safe Sport“ berichteten mehr als ein Drittel der befragten Leistungssportler von sexuellen Übergriffen.
Dass Missbrauch im Reitsport Realität ist, zeigen auch die Fälle der Frauen, die inzwischen den Mut hatten, ihre Geschichten öffentlich zu machen. Die ehemalige Nachwuchsreiterin Victoria Ries wurde als Jugendliche von ihrem Trainer missbraucht und setzt sich heute unermüdlich für Aufklärung und Veränderungen ein. Sie zeigt, wie dringend Betroffene Stimmen brauchen, die gehört werden. Auch Springreiterin Lisa-Marie Kreutz hat ihre Geschichte öffentlich gemacht. Sie kämpft darum, dass junge Reiterinnen heute nicht mehr durch die gleichen Höllen gehen müssen wie sie, und hat auf ihrem Hilfe-Portal für Betroffene eindrücklich geschildert, wie perfide und zerstörerisch solche Taten sind.
Es gibt zudem zahlreiche Urteile gegen Trainer, die über Jahre hinweg Kinder und Jugendliche missbraucht haben. Ein Reitlehrer aus dem Kreis Plön wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. Ein anderer, ein 39-Jähriger aus Niedersachsen, missbrauchte Kinder auf einem Reiterhof systematisch. Diese Fälle stehen stellvertretend für ein Problem, das nicht länger als Randerscheinung abgetan werden kann.
Die bekannt gewordenen Fälle haben im Reitsport eine Debatte ausgelöst, die längst überfällig war. Enge Vertrauensverhältnisse, starre Hierarchien, die Abhängigkeit von Trainerentscheidungen und der traditionelle Reflex des „Wegschauens“ haben ein Klima geschaffen, in dem Täter viel zu lange geschützt wurden. Diese Strukturen müssen sich ändern. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) und die internationale FEI beschäftigen sich inzwischen intensiv mit Prävention und Aufarbeitung. Die FN hat einen Betroffenenrat eingerichtet, verpflichtet Trainer seit 2014 zur Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses und stellt Informationen und Hilfsangebote zur Verfügung. Internationale Verbände arbeiten ebenfalls an strengeren Regeln, besseren Kontrollmechanismen und mehr Transparenz. Medien wie das WDR-Magazin „Sport inside“ haben das Thema wiederholt aufgegriffen, Missstände offengelegt und den Betroffenen eine Stimme gegeben. Diese Dokumentationen sind ein wichtiger Teil der Aufarbeitung und zeigen, wie lange Täter in Strukturen agierten, die sie schützten.
Für Betroffene ist es entscheidend, dass sie Orte finden, an denen sie ernst genommen werden. Viele wissen in solchen Situationen weder ein noch aus, schämen sich, fühlen sich schuldig, oder glauben, sie hätten etwas falsch gemacht. Dabei liegt die Schuld immer – ausnahmslos – beim Täter. Wichtig ist, dass Mädchen und junge Frauen wissen, dass sie nicht allein sind.
Missbrauch passiert nicht im Dunkeln, sondern mitten unter uns: in Ställen, auf Turnieren, in Anhängern, in Sattelkammern. Und er passiert, weil Täter sicher sind, dass ihr Verhalten keine Konsequenzen hat. Diesen Kreislauf müssen wir durchbrechen. Jeder und jede kann dazu beitragen: indem wir hinsehen, nachfragen, unterstützen und denjenigen glauben, die sich trauen darüber zu sprechen.
Was aber sollte man tun, wenn man einen Verdacht hat?
Das Wichtigste ist: Niemand muss eine Tat glasklar beweisen können, um Hilfe zu holen. Es reicht, wenn das Gefühl entsteht, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. In solchen Fällen sollte man das Gespräch mit Vertrauenspersonen suchen, die Beobachtungen dokumentieren und fachkundige Stellen einbeziehen. Professionelle Beratungsstellen beraten anonym, vertraulich und zeigen konkrete Schritte auf. Wichtig ist, dass man nicht versucht, selbst zu ermitteln, sondern den Verdacht an Stellen weitergibt, die diese Situationen professionell einschätzen können.
Ich wünsche mir einen Reitsport, der das Vertrauen, das Mädchen und Frauen ihm schenken, verdient. Einen Reitsport, der nicht wegschaut. Einen Reitsport, in dem Hilfe keine Ausnahme ist, sondern Normalität.
Beratungsstellen – Hilfe & Unterstützung
Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch
Kostenlos, anonym, für Betroffene, Angehörige & Fachkräfte
Telefon: 0800 22 55 530
Zeiten: Mo/Mi/Fr 9–14 Uhr; Di/Do 15–20 Uhr
Website:
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de
https://www.nina-info.de/telefon-beratung
Online-Beratung (Schreib-Ollie):
https://www.schreib-ollie.de
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“
Rund um die Uhr, kostenfrei, anonym
Telefon: 116 016
Website: https://www.hilfetelefon.de
TelefonSeelsorge
Für Krisen, belastende Situationen, akute seelische Not
Telefon: 0800 111 0 111
Telefon: 0800 111 0 222
Telefon: 116 123
Website: https://www.telefonseelsorge.de
Mehr Informationen stellt die FN hier zur Verfügung.
Missbrauch im Reitsport – Zahlen und Fakten
- Laut der Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) sind rund 200.000 Menschen im Breitensport von sexualisierter Gewalt betroffen
- In einer bundesweiten Studie im Rahmen des Projekts Safe Sport (von der Deutsche Sporthochschule Köln und dem Universitätsklinikum Ulm) gaben über ein Drittel der befragten Leistungssportler:innen an, sexuelle Übergriffe erlebt zu haben.
- Eine EU‐Studie zur „gender-based violence“ im Sport kommt zu dem Schluss, dass zuverlässige Prävalenzdaten fast vollständig fehlen – das heißt: wir wissen nicht genau, wie groß das Problem im Sport ist.
- Eine Analyse von Jugendlichen und Erwachsenen im organisierten Sport in Deutschland zeigte, dass sexualisierte Gewalt überwiegend im leistungsorientierten und Vereins-Sport vorkommt – weniger im Freizeit- oder Schulsport.
- In einem Fachartikel heißt es, dass im Reitsport und ähnlichen „einzelnen Sportarten mit engen Bindungen“ die Täter besondere Möglichkeiten haben – z. B. durch Training in kleinen Gruppen, Einsamkeit mit dem Pferd, langjährige Beziehung zwischen Trainer und Reiter.
