Riskante Krankentransporte im „Behelfskrankenwagen“

Ein demenzkranker Senior wird von zwei Männern in Jeans und Turnschuhen eine steile Treppe hinab getragen, ohne Hilfsmittel, ohne Sicherung, ohne medizinische Sorgfalt. Ein Dialysepatient im Tragestuhl wird mit einem Mietwagen transportiert – ohne die technischen und fachlichen Standards eines qualifizierten Krankentransports. Szenen, die zunächst wie groteske Einzelfälle wirken, stehen stellvertretend für ein System, das über Jahre still geduldet wurde.

In vielen deutschen Städten werden Patientinnen und Patienten in sogenannten Mietliegewagen oder Liegentaxis transportiert – in Fahrzeugen, die von außen wie Rettungswagen aussehen, aber von Fahrern mit einem einfachen Personenbeförderungsschein gesteuert werden. „Diese Behelfskrankenwagen transportieren teilweise sogar Menschen, die beatmet werden müssen, intensivmedizinische Unterstützung benötigen, sowie infektiöse Patientinnen und Patienten.Den Fahrern fehlt das Wissen über Hygienevorschriften und sie beherrschen keine fachgerechten Tragetechniken“, warnt Sebastian Mzyk, Geschäftsführer von NRK Rettungsdienst und NRK Notfallrettung.

Sebastian Mzyk, geschäftsführender Gesellschafter NRK Rettungsdienst GmbH und NRK Notfallrettung GmbH, Foto: Alexander Vejnovic

Sebastian Mzyk, geschäftsführender Gesellschafter NRK Rettungsdienst GmbH und NRK Notfallrettung GmbH
Foto: Alexander Vejnovic

Wenn Sparen lebensgefährlich wird

Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hat am 25. August ein Grundsatzurteil gefällt, das dieser Praxis juristisch die Grundlage entzieht. Tragestühle sind Medizinprodukte, die ausschließlich im qualifizierten Rettungsdienst genutzt werden dürfen. Ein Einsatz in einem Mietwagen widerspreche der Zweckbestimmung des Medizinprodukterechts. Rechtsanwalt Dr. Andreas Staufer aus Rosenheim, der seit Jahren gegen diese Praxis vorgeht, sagt: „Darüber hinaus entstehen Risiken bei der Anwendung von Medizinprodukten, beim Umlagern, Tragen und Heben, weil dem Personal die notwendige Aus- und Fortbildung sowie Erfahrung fehlt. Damit gehen gesundheitliche Gefahren für Anwender und Patienten einher, die zu schweren Erkrankungen und Verletzungen führen können.“  

Branchenkenner schätzen, dass mittlerweile bis zu 30 Prozent der Patienten, die eigentlich qualifiziert zu transportieren sind, in solchen Wagen landen. Der Bundesverband eigenständiger Rettungsdienste und Katastrophenschutz (BKS) findet sehr deutliche Worte: „Das Problem ‚Mietliegewagen‘ existiert nur, weil die öffentliche Verwaltung im Genehmigungsverfahren für Mietwagen nach § 49 Abs. 4 PBefG schlampig prüft und rechtswidrige Genehmigungen erteilt.“ Hinzu komme noch, dass mit blauer Folie aufgeklebte Warnlichter den Eindruck eines echten Blaulichts hinterlassen. „Zusätzlich trägt das Personal noch Dienstkleidung, die der Bekleidung des Rettungsdienstpersonal zum Verwechseln ähnlich sieht“, so Udo Pokowietz, Vizepräsident des BKS.

Zwei Männer in Freizeitkleidung und Turnschuhen schieben einen schwerkranken Patienten in einen Mietliegewagen. Foto: privat

Zwei Männer in Freizeitkleidung und Turnschuhen schieben einen schwerkranken Patienten in einen Mietliegewagen. Foto: privat

Düsseldorf unter Druck

Wie viele Mietliegewagen sind eigentlich im Einsatz – und wie reagiert die Stadt auf das Urteil? Darauf erhalten wir keine Antwort, stattdessen verliert man sich in juristischen Detailfragen. Zunächst stellt die Düsseldorfer Verwaltung klar, dass das Urteil des OLG Hamm „eine zivilrechtliche Unterlassungsklage“ betrifft und damit nur den konkreten Streitfall regelt. „Eine unmittelbare Bindung für die Genehmigungsbehörde ergibt sich hieraus nicht“, schreibt die Stadt. Erst wenn sich herausstelle, dass es sich tatsächlich um einen Grundsatzbeschluss handelt, entstehe ein verwaltungsinterner Prüfbedarf im Hinblick auf die Genehmigungspraxis. Damit signalisiert Düsseldorf: Man nimmt das Urteil ernst, aber es zieht keine automatische Wirkung auf die Zulassungspraxis nach sich. Die Stadt betont außerdem, dass die Konzessionsbehörde derzeit „eine sachgerechte und rechtssichere Vorgehensweise“ prüft. Das Problem dahinter ist ein strukturelles: Das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) ist für diese Art von Transporten gar nicht ausgelegt. Zwar unterliegen Krankentransporte (nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 PBefG) nicht dem Personenbeförderungsgesetz, wenn sie mit einem echten Krankenkraftwagen durchgeführt werden und ein medizinisch-fachlicher Betreuungsbedarf besteht oder zu erwarten ist. Doch das Gesetz sagt nichts darüber aus, wie die Beförderung kranker Personen im normalen Personenkraftwagen zu bewerten ist – und es enthält keinerlei Regeln für die Nutzung medizinischer Geräte wie Tragen oder Tragesessel in solchen Fahrzeugen. Genau diese Lücke macht die Sache kompliziert. Während das OLG klar formuliert, dass die Nutzung der Geräte im Mietwagen „der Zweckbestimmung nach dem Medizinprodukterecht widerspricht“, fehlt im Personenbeförderungsgesetz jede praktische Regelung dazu.

Der Blick hinter die Folien-Blaulichter

Bleibt die Frage: Woran erkennt man, ob der Wagen vor der Tür ein echter Krankentransport oder nur ein improvisiertes Ersatzfahrzeug ist? Für Laien ist das oft schwer. Mietliegewagen wirken professionell: Hochdach, Schiebetür, Innenumbau, medizinisch anmutende Kleidung. Auf den Websites der Krankenfahrten-Anbieter finden sich Formulierungen wie „freundliches Personal“, der Hinweis auf eine offizielle Zulassung durch die Stadt Düsseldorf und Aussagen wie Partner aller Krankenkassen zu sein. Tatsächlich gibt es dort auch zahlreiche Fahrer – doch keine ausgebildeten Rettungssanitäter.

Rettungssanitäterin Paula Jung stellt EKG ein, Foto: NRK Rettungsdienst
Rettungssanitäterin Paula Jung stellt das EKG ein.
Foto: NRK Rettungsdienst

Qualifizierte Krankentransportwagen folgen strengen DIN-Normen: geprüfte Tragen, gesicherte Befestigungen, Sauerstoffversorgung, Absauggeräte und eine vollständige hygienische Grundausstattung. Entscheidend ist aber das Personal: mindestens ein Rettungssanitäter und ein Rettungshelfer mit staatlich geprüfter Ausbildung. Wer im Ersatzfahrzeug sitzt, wird dagegen von Fahrern ohne medizinische Kenntnisse begleitet – d. h. ohne fachliche Kompetenz, in Notfällen einzugreifen. „Das Risiko reicht von falschen Handgriffen über fehlende Hygiene bis hin zum Bruch der Schweigepflicht – wenn persönliche Diagnosen im Smalltalk des Fahrers ausgeplaudert werden“, erklärt Sebastian Mzyk. Ein seriöser Rettungsdienst erklärt auf Nachfrage jeden Schritt der Fahrt: Wie gesichert wird, welche Ausstattung vorhanden ist, was im Notfall passiert. Unseriöse Anbieter bleiben bei vagen Formulierungen wie „Servicefahrt“ oder „Transport ohne medizinische Betreuung“.

Am Ende zeigt sich ein Geschäftsmodell, das lange im Schatten agierte und erst jetzt durch Gerichtsurteile langsam in Frage gestellt wird. Sebastian Mzyk fasst die Absurdität so zusammen: „Wir haben das teuerste Gesundheitssystem der Welt – und gleichzeitig werden schwerkranke Menschen in ungeeigneten Fahrzeugen von Fahrern ohne Qualifikation transportiert, nur weil es vordergründig billiger ist.“ Die kommenden Monate werden entscheiden, ob Kommunen, Krankenkassen und Aufsichtsbehörden einschreiten – oder ob Patienten weiter darauf hoffen müssen, dass der Rettungswagen, der sie abholt, nicht nur so aussieht wie ein echter Rettungswagen.

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