Foto: Schriftschatz
Die Wiederentdeckung der Handschrift
Versteckt in einem Hinterhof am Hermannplatz liegt ein kleines Atelier. Wo früher Druckmaschinen ratterten, fließen heute Linien, Bögen und Worte über das Papier. Zehn Frauen und ein 13-jähriges Mädchen sind gekommen, um etwas wiederzuentdecken, das vielen im zunehmend digitalen Alltag mehr und mehr verloren geht: die eigene Handschrift.
Die Stimmung ist fast wie bei einem Yoga-Kurs, nur dass hier keine Matten ausgerollt werden, sondern ein großes weißes Blatt und viele kleine Blätter, einige davon transparent. Gaby Trombello-Wirkus, Gründerin von Schriftschatz, beginnt den Abend mit einem kurzen Exkurs über die Schulschriften der letzten Jahrhunderte von der Kurrentschrift über Sütterlin, der lateinischen Ausgangsschrift von 1953 bis hin zur Druckbuchstaben-Grundschrift von 2010. Es folgt ein Aufwärmprogramm mit Wellenlinien, Zickzack, Schnecken – ganz locker aus dem Handgelenk. Weniger locker geht es zu, wenn Rechtshänder mit links ein Wort ohne abzusetzen schreiben sollen.
Während ich die Zeilen fülle, merke ich, wie sich Konzentration einstellt. Keine Delete-Taste, keine Ablenkung vom Handy. Was am Anfang mühsam und ungewohnt ist, wird bald ein eigener Rhythmus und eine Erinnerung an kleine Tafeln mit einem Schwämmchen. Handschrift, erklärt Trombello-Wirkus, sei weit mehr als Nostalgie. Beim Schreiben mit der Hand werden Hirnareale aktiviert, die beim Tippen passiv sind. „Oder anders gesagt: Schreiben macht schlau.“
Trombello-Wirkus hat sich schon lange mit Schriften und Design beschäftigt. Sie studierte Grafik-Design in Florenz, leitete viele Jahre eine eigene Agentur und arbeitete für große Unternehmen. Doch irgendwann suchte sie etwas Neues. Inspiriert von Projekten mit geflüchteten Jugendlichen aus Syrien, bei denen sie über Schrift und Kunst Zugänge zur Sprache schuf, entdeckte sie ihr Thema: Schrift nicht nur zu gestalten, sondern erlebbar zu machen.

Begeistert sich für Handschrift: Gaby Trombello-Wirkus, Gründerin von Schriftschatz
Foto: Knusperfarben Fotografie
2018 eröffnete sie das Atelier, „eine echte Sanierungs-Herausforderung“. Heute steht ihr Unternehmen auf drei Säulen. Da sind die kreativen Workshops in Hand oder Brush Lettering. Da sind die moderne und klassische Kalligrafie für Karten oder Geschenke sowie die Event-Kalligrafie für Marken, für die die Handschriftenexpertin auf Veranstaltungen Give-aways personalisiert. Und schließlich die Auftragsarbeiten für Privatpersonen und Firmen, von der Hochzeitspapeterie bis hin zu Kartenserien. Nicht zu vergessen den Online-Shop mit handgenähten Federmäppchen, Briefpapier, Weihnachtskarten und kalligrafierten Weihnachtskugeln. 2020 erschien ihr Buch mit dem Titel „Die fast vergessene Kunst des Briefeschreibens“, das sie zusammen mit Titus Müller veröffentlichte.
Analog als Gegenpol
In Zeiten von WhatsApp, E-Mail und KI suchen viele Menschen ganz bewusst das Analoge. „Für manche ist Schreiben fast exotisch geworden“, weiß Trombello-Wirkus. Doch genau darin liegt der Reiz. Wer sich für ein paar Stunden auf seine Schrift konzentriert, taucht ab, gewinnt Ruhe und Selbstvertrauen. Unternehmen wiederum entdecken den Mehrwert, wenn Teams beim Schreiben zusammenkommen und mehr miteinander teilen als nur einen Bildschirm.
Sie erzählt von Jurastudenten, die zu ihr kommen, weil sie schneller und besser mitschreiben wollen, von Menschen, die ihre Schrift im Alter nicht verlieren möchten, und von Unternehmen, die Teamabende bei ihr buchen.
Manchmal geht es auch um mehr als um einen Do it yourself (DIY) Workshop in vergnüglicher Runde. Eine Frau mit Parkinson kam zu ihr, um nicht zu vergessen, wie man Buchstaben formt. Gemeinsam mit einer Ergotherapeutin arbeitete Trombello-Wirkus an der Handschrift, bis die Frau nach Jahren wieder ein vertrautes Schriftbild in Händen hielt. „Das sind Momente, die berühren“, sagt sie.

Foto: Schriftschatz
Die zweieinhalb Stunden des Handschriftenkurses vergehen wie im Flug. Alle Teilnehmerinnen haben an ihrer Handschrift gearbeitet, und wissen, was zu tun ist, wenn sie das eigene Schriftbild zu klein oder zu groß oder zu unruhig finden oder das Geschriebene schwer zu entziffern ist. Aber jede von ihnen geht auch mit der Gewissheit nach Hause, dass ihre Handschrift so einzigartig ist wie ihr Fingerabdruck und ein Teil ihrer Persönlichkeit.