Die vierten Stadtgespräche im Industrieclub Düsseldorf

Die Welt rückt auseinander – und Europa muss sich neu aufstellen. Wie sehr die Zeit drängt, zeigten die vierten Stadtgespräche, zu denen die europäische Finanzgruppe ODDO BHF SE am 27. November in den Düsseldorfer Industrieclub geladen hatte. Unter dem Titel „Europäische Souveränität und die Rolle Deutschlands in Zeiten globaler Umbrüche“ diskutierten drei Stimmen aus der ersten Reihe der deutschen Wirtschaft: Dr. Simone Bagel-Trah, Vorsitzende des Aufsichtsrats und Gesellschafterausschusses der Henkel AG & Co. KGaA, Guido Kerkhoff, Vorstandsvorsitzender der Klöckner & Co. SE, und Melanie Kreis, Finanzvorstand der DHL Group. Rund 300 Gäste aus Wirtschaft, Politik und Stadtgesellschaft waren gekommen.

ODDO BHF SE – eine der traditionsreichsten europäischen Privatbanken, gegründet 1849 in Frankreich, seit Jahrzehnten fest verankert in Deutschland – feiert in diesem Jahr ihr 175-jähriges Jubiläum. Der Gastgeber, Philippe Oddo, Vorstandsvorsitzender und geschäftsführender Gesellschafter, ist ein Mann, der europäische Finanzmärkte nicht beobachtet, sondern gestaltet. Unter seiner Führung ist das Haus zur größten unabhängigen deutsch-französischen Finanzgruppe gewachsen – mit Standorten in Paris, Düsseldorf, Frankfurt, Luxemburg, New York und Zürich. Ein Bankier, der an Zahlen glaubt, aber in globalen Zusammenhängen denkt.
Und ein Europäer, der Europa nicht als Idee versteht, sondern als zukunftsweisenden Wirtschaftsraum.
 
Mit ihm in der Diskussion: drei Spitzenkräfte der deutschen Wirtschaft. Drei Lebenswege,
die zeigen, wie vielfältig Leadership heute ist. Drei Menschen, die täglich mit den Verschiebungen der globalen Kräfteverhältnisse arbeiten.

Düsseldorfs Beigeordneter Christian Zaum zeichnet ein Europa unter Druck

Christian Zaum, Beigeordneter der Landeshauptstadt Düsseldorf, eröffnete die Veranstaltung. In sein Dezernat gehören das Amt für Statistik und Wahlen, das Amt für Recht, Vergabe und Versicherung, das Ordnungsamt, das Gesundheitsamt sowie die Wirtschaftsförderung – ergänzt durch die städtische Fachstelle Compliance. Er zeichnete ein Bild einer Welt, die sich schneller dreht als die politischen Systeme, die sie ordnen sollen.

Foto: Landeshauptstadt Düsseldorf/ David Young

„Die Gewissheiten der vergangenen Jahrzehnte sind ins Wanken geraten.“

Christian Zaum, Beigeordneter der Landeshauptstadt Düsseldorf

„Ich bin 48 Jahre alt und groß geworden mit der Vorstellung, dass Europa stetig zusammenwächst und dass wir in eine Epoche globaler Stabilität hineinwachsen würden. Diese Epoche ist nicht mehr da“, sagte er.

Souveränität sei heute etwas, das täglich neu erarbeitet werden müsse – wirtschaftlich, politisch, technologisch. „Für Europa bedeutet das: handlungsfähig zu bleiben. Und zwar aus eigener Stärke heraus.“ Er erinnerte daran, dass dies nicht nur in Brüssel oder Berlin geschehe, sondern in den Städten und Regionen Europas, in Düsseldorf eben: einer Stadt mit wachsender Bevölkerung, internationaler Wirtschaft, hoher Innovationskraft und der Ambition, bis 2035 klimaneutral zu sein. „Europa“, sagte er, „wird hier gelebt.“

Simone Bagel-Trah: Aufsichtsratsvorsitzende zwischen Wissenschaft, Weltmarkt und Familiengeschichte

Dr. Simone Bagel-Trah, als eine der prägenden Führungspersönlichkeiten der deutschen Wirtschaft, eröffnete den Dialog. Ihre Vita verbindet eine naturwissenschaftliche Ausbildung mit der Verantwortung für ein globales Familienunternehmen: Mikrobiologin, seit 2001 Mitglied im Aufsichtsrat von Henkel, ab 2008 dessen stellvertretende Vorsitzende und seit 2009 Vorsitzende des Aufsichtsrats und des Gesellschafterausschusses – als erste Frau in der damals über 145-jährigen Geschichte des Konzerns. Dazu kommen Mandate bei Bayer, Heraeus sowie Engagements in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen.

Ihr Verantwortungsbereich bei Henkel ist breitgefächert: von Konsumgütermarken wie Persil oder Schwarzkopf bis hin zu industriellen Hochleistungsklebstoffen, die weltweit produziert und eingesetzt werden. Ihr Blick auf Europa fällt deutlich optimistischer aus als die aktuelle Nachrichtenlage. „Wenn man die Nachrichten anschaut, wird man leicht pessimistisch. Aber wir alle, die wir hier sitzen, glauben an Europa“, sagte Bagel-Trah. Aus ihrem naturwissenschaftlichen Hintergrund brachte sie eine selten gehörte Perspektive ein. Die vielzitierte Darwin-Formel, erklärte sie, werde bis heute missverstanden.

Foto: Henkel AG & Co. KGaA

„,Survival of the fittest‘ bedeutet nicht Stärke, sondern Anpassungsfähigkeit. Mutation, Variation – das passiert ständig und unkontrolliert. Genau das brauchen Unternehmen.“

Dr. Simone Bagel-Trah, Vorsitzende des Aufsichtsrats und Gesellschafterausschusses der Henkel AG & Co. KGaA
Resilienz sei kein Zustand, sondern ein dynamischer Prozess. Wer das ignoriere – Staat oder Unternehmen – verliere den Anschluss. Ihre Haltung ist durchgehend pragmatisch: „Ich konzentriere mich darauf, wo ich selbst aktiv werden kann – statt darauf, was andere tun.“
Bagel-Trah ordnete Europa und Deutschland klar in den Kontext von Henkels globaler Struktur ein: „Deutschland ist für uns nach wie vor wichtig. Es birgt Chancen und Risiken gleichermaßen. Europa ist für Henkel weiterhin eine entscheidende Region: viele Produktionsstandorte, viele Umsätze. Wir glauben daran, dass Europa auch in zehn oder fünfzehn Jahren eine große Rolle spielt. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was wir beeinflussen können.“

Melanie Kreis: Von der Physik in die Schaltzentrale der globalen Logistik

Die zweite Stimme des Abends gehörte Melanie Kreis, Finanzvorständin der DHL Group und eine der prägendsten Managerinnen Deutschlands. Ihre Laufbahn begann in der Physik – zunächst an der State University of New York, später an der Universität Bonn. Von dort führte sie ihr Weg in die internationale Wirtschaft: Beratung in Köln, Private Equity in München und London, schließlich der Einstieg bei der Deutschen Post DHL Group im Jahr 2004.

Dort durchlief sie zentrale Stationen: Controlling, Corporate Office, später CFO von DHL Express. Seit 2014 ist sie Mitglied des Konzernvorstands, zunächst als Personalvorständin, seit 2016 als CFO des gesamten Konzerns. 2024 übernahm sie die Präsidentschaft des Deutschen Aktieninstituts – ein Amt, das heute stärker denn je zwischen Wirtschaft und Politik vermittelt.

Ursprünglich wollte Kreis jedoch Astronautin werden – was aber an der Notwendigkeit einer Brille scheiterte und daran, „dass mir auf dem Karussell schlecht wird“. Ihre „lesson learned“ daraus formuliert sie so: „Wenn etwas nicht so läuft, wie man will, muss man einen Plan B haben.“ Dieser führt sie inzwischen an die Knotenpunkte weltweiter Handels- und Transportströme. „Die Welt verändert sich mit einem Tempo, wie ich es in 20 Jahren noch nie erlebt habe. Handelsströme verschieben sich innerhalb von Wochen statt Jahren; Entscheidungen fallen an Orten, die früher nur Beobachter waren“, sagte die DHL-Vorständin. Gleichzeitig sieht sie Europa nicht als Opfer dieser Dynamik, sondern als handlungsfähigen Akteur:

Foto: DHL Group

„Wir sind in einer starken Position. Aber wir müssen schneller werden.“

Melanie Kreis, Finanzvorstand der DHL Group

Die Pandemie hat für sie eine zentrale Erkenntnis freigelegt: „Die letzten Jahre haben gezeigt, wie verletzlich globale Lieferketten sind. Aber auch, wie wichtig Diversifizierung ist.“ Lokale Produktion, regionale Stabilisatoren, intelligente Netzwerke – all das sei heute nicht Kür, sondern Voraussetzung für Resilienz. Kreis bleibt dabei konsequent pragmatisch: „Wir haben kompetente Menschen. Wenn wir uns besser koordinieren, können wir unsere PS auf die Straße bringen. Die anderen schlafen nicht.“

Guido Kerkhoff: Ein Industriechef, der industrielle Transformation täglich erlebt

Der dritte im Bunde war Guido Kerkhoff, heute Vorstandsvorsitzender der Klöckner & Co. SE. Sein beruflicher Weg führte ihn nach dem BWL-Studium in Bielefeld und Saarbrücken zunächst in die Energiewirtschaft, weiter zu Bertelsmann und anschließend in die Führungsebenen der Deutschen Telekom. 2011 wurde er CFO von ThyssenKrupp, ab 2018 Vorstandsvorsitzender – mitten in einer Phase massiver industrieller Umbrüche. Seit 2021 steht er an der Spitze von Klöckner & Co., einem Unternehmen, das wie kaum ein anderes täglich spürt, wie sich geopolitische Strömungen, Rohstoffmärkte und globale Lieferketten verschieben. Seine Diagnose war klar und ungeschönt:

Foto: Klöckner & Co. SE

„Die Stimmung ist überschaubar. Bürokratie, Digitalisierung, Energie – vieles wirkt wie eine angezogene Handbremse.“

Guido Kerkhoff, Vorstandsvorsitzender der Klöckner & Co. SE

Seine Analyse ging jedoch weiter als der inzwischen weit verbreitete Industrielamentismus. Er beschrieb, wie Zölle, geopolitische Spannungen und veränderte Sicherheitslagen die Spielregeln der Industrie neu ordnen. Doch in diesem veränderten Umfeld erkennt er nicht nur Risiken, sondern auch ein Wiederaufleben europäischer Fähigkeiten: „Vieles wird nach Europa zurückgeholt – Versorgungssicherheit entsteht wieder.“ Damit meint er keine protektionistische Renaissance, sondern einen nüchternen industriepraktischen Trend: Produktionsstufen, die jahrelang in asiatische oder amerikanische Märkte ausgelagert waren, kehren Stück für Stück zurück.

Kerkhoff ordnet diesen Trend als Chance ein, nicht als Rückschritt. Das alte Globalisierungsmodell sei an Grenzen gestoßen, jetzt gehe es um belastbare regionale Kreisläufe. Sein kurzer, aber präziser Satz dazu: „Local for local.“

Damit meint er nicht Abschottung, sondern Stabilität: kürzere Wege, robustere Netze, regionale Alternativen zu verletzlichen globalen Strömen. Aus seiner Sicht entsteht genau daraus wieder neues industrielles Potenzial – eine Art Reverse-Globalisierung, die Europa wieder stärker verankert.

Philippe Oddo: Ein Europäer, der an das europäische Potenzial glaubt

Am eindringlichsten sprach an diesem Abend Philippe Oddo selbst. Ohne Manuskript, wie jemand, der einfach live denkt. ODDO BHF, sagte er, sei aus Überzeugung ein europäisches Haus – deutsch-französisch in seiner DNA, unabhängig in seiner Struktur, global in seiner Perspektive. Die Gruppe wachse stark in den USA, besonders in New York, „weil Investoren dort Europas Stärken sehen – oft klarer als wir selbst“.

Seine Botschaft war einfach und gleichzeitig unbequem: Europa sei viel stärker, als die Europäer glauben. Es habe ein Bruttoinlandsprodukt auf Augenhöhe mit China, ein Sparvermögen von 35 Billionen Euro, 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger, eine der stabilsten Demokratielandschaften der Welt. Und dennoch mache sich der Kontinent selbst klein.

Oddo sprach nicht über Defizite, ohne über Potenziale zu sprechen. Und er sprach nicht über Potenziale, ohne über Strukturen zu sprechen, die sie behindern. Die steuerlichen Fehlanreize bei Mitarbeiterbeteiligungen, die regulatorischen Einschränkungen für institutionelle Investoren, die mangelnde Beteiligung der Bevölkerung am Vermögen ihrer eigenen Unternehmen.

Foto: ODDO BHF SE

Die ganze Welt sieht Europa positiv. Die einzigen, die Europa negativ sehen, sind die Europäer.“

Philippe Oddo, Vorstandsvorsitzender und geschäftsführender Gesellschafter ODDO BHF SE

In Frankreich, führte er aus, erhielten Mitarbeitende Aktien steuerfrei bis zum Verkauf. In Deutschland hingegen müssten sie die Steuer sofort zahlen. Gewinnbeteiligungen seien in Frankreich steuerbefreit, wenn man fünf Jahre im Unternehmen bleibe. Die Zahlen sprächen für sich: In Frankreich halten Bürgerinnen und Bürger über 36 Prozent der Unternehmensanteile – in Deutschland nur 8 Prozent.

Europa brauche Kapital, Talent und investitionsfreundliche Strukturen. Doch Regulierung und Politik bremsten den Zufluss genau dieses Kapitals, das für Infrastruktur, Innovation und gesellschaftliche Zukunftssicherung notwendig sei. Die europäischen Unternehmen seien robust, gut geführt – und im globalen Vergleich oft zu günstig bewertet.

Seine Beobachtung zum internationalen Kapitalmarkt: Talente kämen verstärkt nach Europa, weil in den USA Forschung und Förderung abgebaut würden. Amerikanische Investoren legten mehr Geld in Europa an.
„Der Präsident will einen schwachen Dollar. Also wollen sie starke Währungen kaufen – in Europa.“

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