Der Philosoph, Publizist und Autor polarisiert und traut sich viel. Dafür fällt er schon mal in Ungnade bei der vierten Gewalt im Staate, den Leit- und Massenmedien. Erntet er Shitstorms, hat er die Größe sich zu entschuldigen. Gerade erschien sein 21. Buch „Das Jahrhundert der Toleranz. Plädoyer für eine wertegeleitete Außenpolitik.“ Wir trafen ihn im Düsseldorfer Medienhafen. Precht kam mit dem Fahrrad und wehenden Haaren. Nicht nur, weil er kein Auto hat, sondern auch weil er wie einige Philosophen mit dem Stadtverkehr nicht klarkommt, weil er sich in unübersichtlichen Verkehrssituationen fragt: Was denkt der jetzt, was ich denke?

Herr Precht, die Welt steht ökologisch vor dem Kollaps und die deutsche Öffentlichkeit irritiert Prügeleien in Freibädern oft stärker als Ertrinkende im Mittelmeer. Denken wir zu sehr an uns selbst?
Richard David Precht: Es geht immer um Eigeninteressen. Aber es gibt einen Unterschied zwischen kurzfristigen und langfristigen Eigeninteressen. Und das wichtigste langfristige Eigeninteresse, das wir haben, ist die Bekämpfung der Klimakatastrophe und alles dafür zu tun, dass diese wunderschöne Erde auch in 100 Jahren noch für uns Menschen bewohnbar ist. Das sollte das übergeordnete Ziel aller Politik sein. Das heißt nicht, dass alle anderen Dinge unwichtig sind, aber das ist und bleibt das größte und noch immer unterschätzte Problem. In der Realpolitik geht es aber leider in erster Linie um Aufregungen in den Medien. Als Politiker stolpert man quasi von einer Überschrift zur anderen und von einer Schlagzeile zur anderen. Das führt zu einem Siegeszug der Taktik über die Strategie. Oder anders ausgedrückt: Das kurzfristige, opportune Handeln obsiegt über das langfristige, kluge Handeln. Das birgt die Gefahr, dass das kurzfristig als richtig erachtete Handeln am Ende den eigenen Strategien zuwiderläuft.

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Richard David Precht

„Der Euphemismus, die Tötungswerkzeuge aus den Waffenschmieden ‚Sicherheitstechnik‘ zu nennen, Bombardierungen ‚Luftschläge‘, Angriffe ‚Verantwortung‘, ‚Engagement‘ oder ‚Mission‘ und Interessenspolitik ‚Führung‘, ‚Friedenssicherung‘ oder ‚Stabilität‘ fällt vielen inzwischen gar nicht mehr auf.“

„Das Jahrhundert der Toleranz“ (S. 163 f.)

Aber wir haben doch unsere Werte, auf die sich alle berufen, wenn es eng wird…
Richard David Precht: Noch enger wird es, wenn wir die Werte definieren wollen. Werte, so überzeitlich sie gedacht sind, sind nie frei von den Interpretationen ihrer Zeit. Und sie wandeln sich schneller, als wir uns gemeinhin eingestehen. Für die Generation meiner Großeltern waren beispielsweise Bescheidenheit, Unauffälligkeit und Duldsamkeit typische Werte. Die würden Sie vermutlich nicht mehr unterschreiben. Es gibt keine „kanonische“ Wertehierarchie und Werte „hat“ man nicht. Wir machen von ihnen Gebrauch und das auch nicht immer ganz lupenrein.

Inwiefern?
Richard David Precht: Ein tapferer Kriegsheld kann ein großer Feigling sein, wenn es darum geht, seiner Ehefrau einen Seitensprung einzugestehen oder ein passionierter Vertreter des Heiligen kann sich zu Schmutzigem hingezogen fühlen und ein wahrheitsliebender Mensch dürfte sich immer wieder beim Lügen ertappen. Werte sind bestenfalls Leitbilder, die häufig dem eigenen Selbstwertgefühl schmeicheln. Wir überschätzen unsere persönliche Wertegebundenheit wie auch die Parteien, Gesellschaften, Gemeinschaften und Staaten es tun.

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Richard David Precht

„Die Pax Americana neigt sich dem Ende zu.“

„Das Jahrhundert der Toleranz“ (S. 52)

Sie analysieren in Ihrem Buch, dass wir auf dem internationalen Parkett auf unseren westlichen Werten geradezu trotzig beharren. Was sind denn die westlichen Werte oder Leitbilder?
Richard David Precht: Wir halten uns immer noch für den Mittelpunkt der Welt und als liberale Demokraten glauben wir, einen grundsätzlichen moralischen Vorsprung allen anderen gegenüber zu haben. Das ist immer noch ein bisschen unsere DNA. So kann man sich natürlich nicht mit China oder Indonesien oder Indien oder wem auch immer an einen Tisch setzen, auch nicht mit afrikanischen Staaten. Wir müssen da an unserem Selbstverständnis arbeiten. Denn von einem unaufhaltsamen Siegeszug liberaler Demokratien kann heute ja leider überhaupt nicht mehr die Rede sein. Auf dem Weltmärkten finden sich neben Demokratien und Autokratien vor allem Anokratien.

Darunter versteht man was?
Richard David Precht: Staaten, in denen zwar gewählt wird, die tatsächliche Macht aber in der undemokratischen und unsichtbaren Hand informeller Regenten liegt wie Geheimdiensten, Clans oder Militärs. Hinzu kommen noch Oligarchien, Plutokratien und vieles mehr.

Unser medial propagiertes Feindbild ist aber ganz klar: Westliche Demokratien versus östliche Autokratien. Der Rede ist oft von der „systemischen Rivalität“ …
Richard David Precht: Ja, so passt das gut in unser Denksystem. Aber vom größten Teil der Welt wird diese vermeintliche systemische Konfrontation von Demokratie und Autokratie überhaupt nicht so gesehen. Und man sieht auch überhaupt keine Notwendigkeit darin, sich auf eine Seite schlagen zu müssen. Unser Denkschema wird also nicht breit geteilt. Auch die Chinesen sehen das nicht so. Sie rivalisieren zwar auf wirtschaftlicher Ebene mit uns und auch dabei, in der Weltpolitik mitzureden, nicht zuletzt mit dem Argument, dass sie einen erheblich größeren Anteil der Weltbevölkerung stellen als Gesamteuropa. Da ist es schon eine merkwürdige Haltung zu sagen: Wieviel ein Land in der Welt zu sagen hat, soll abhängig davon sein, ob es eine Demokratie ist oder nicht. Länder wie China oder die arabischen Staaten können derzeit auch gar keine liberalen Demokratien werden, dafür fehlen grundlegende Voraussetzungen.

Sie schreiben: „Russland wird zu einem unersättlichen Monster stilisiert, von dem eine unmittelbare militärische Gefahr für Deutschland ausgehen soll.“ Wie schätzen Sie diese Gefahr ein? In dem ebenfalls gerade erschienenen Buch von Günter Verheugen und Petra Erler, „Der lange Weg zum Krieg“, werfen die Autoren der deutschen und der EU-Außenpolitik Versagen vor und geben ihr eine Mitschuld an der verheerenden Eskalation.
Richard David Precht: Wir haben immer noch die alten Schemata vom Kalten Krieg im Kopf. Damit sind viele von uns aufgewachsen. Man hatte immer Angst davor, dass Russland auf vergleichbare Weise seinen Machtbereich expandiert wie die Vereinigten Staaten. Die USA haben immerhin weltweit 800 Militärbasen im Ausland, Russland neun und China eine. Dieses Schema von der systemischen Rivalität treibt uns derzeit in eine mörderische Aufrüstungsspirale. Russland hat völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen und einen furchtbaren Krieg entfacht, was ich schwer verurteile. Aber das hat nun wirklich nichts mit einem Angriff auf Deutschland zu tun. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge, denn schon der Einmarsch im Baltikum oder in Polen bedeutete unweigerlich einen Dritten Weltkrieg, den alle vermeiden wollen. Das Geld für die Rüstung ist für Deutschland sehr schmerzlich, es wird uns fehlen bei der ökonomischen Transformation, bei unserer Zukunftsfähigkeit und bei der Digitalisierung. Es fehlt uns im Bildungssystem, im Sozialsystem, in unserem maroden Rentensystem und in unserem Gesundheitssystem. All das wird uns auf die Füße fallen in Form wachsender Unzufriedenheit. Das zweite ist die ökologische Bilanz. Schon vor dem Ukraine-Krieg hat das NATO-Militär fast 200 Millionen Tonnen CO2 in die Luft geblasen. Wenn alle NATO-Mitglieder ihr Zwei-Prozent-Ziel beim Wehretat erreichen, wären das bis 2028 zwei Milliarden Tonnen CO2.

Warum wird so wenig kontrovers in den Medien diskutiert über Themen wie Aufrüstung und Krieg?
Richard David Precht: Privat wird darüber in Deutschland sehr viel und kontrovers diskutiert. Aber in den Leitmedien sieht das anders aus, da gibt es eine breit vorherrschende Meinung, dass nur mehr Rüstung hilft und sonst nichts. Diese Angleichung der Medien-Meinung aneinander ist im Sinne einer freiheitlichen Demokratie keine gute Entwicklung. Stattdessen bräuchte es mehr Meinungsvielfalt und mehr Reflexion.

Kommen wir zum Titel des Buches. Sie schreiben im letzten Kapitel, dass es ohne Toleranz kein 22. Jahrhundert mehr geben wird, was meinen Sie damit?
Richard David Precht: Ich halte kein allgemeines Plädoyer für Toleranz. Es geht um das, was nicht zu tolerieren ist, dazu gehören Völkerrechtsbruch, Folter, Mord, Krieg, Verbrechen und Menschenrechtsverstöße, egal, wer sie begeht. Aber wir werden nicht umhinkommen zu tolerieren, dass es im 21. Jahrhundert zahlreiche Staaten gibt, die keine liberalen Demokratien sind und es vermutlich auch nicht werden. Staaten, die oft leider auch ein anderes Verständnis von Menschenrechten haben als wir. Ich fürchte sogar, dass die Gefahr, dass die liberalen Demokratien in den nächsten Jahrzehnten keine mehr bleiben könnten, höher ist als die Wahrscheinlichkeit, dass China eine liberale Demokratie wird.

Aber Sie werfen die Idee eines liberalen, humanen Welt-Kommunitarismus in den Ring …
Richard David Precht:
Ich bin kein Phantast, aber ich weigere mich, die Hoffnung aufzugeben, dass wir uns darauf besinnen, dass das Gewicht der gemeinsamen Interessen vielleicht doch größer ist als das, was uns trennt.

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Über Richard David Precht

Als zweitältester Sohn einer bürgerlichen Familie in Solingen mit zwei vietnamesischen Adoptivkindern wuchs er links von der SPD auf, wählte lange Zeit grün und geht deshalb umso härter mit den Grünen ins Gericht. „Die Grünen sind heute die Partei jener Leute, gegen die sie einst gegründet wurde.“ Begrüßen würde er ein soziales Pflichtjahr für junge Menschen und für Rentnerinnen und Rentner. Privates bleibt bei ihm privat. Precht hat einen Sohn Oskar (21), hat 30 Jahre in Köln gelebt, lebt seit neun Jahren in Düsseldorf-Unterbilk. Er steht früh auf und fängt an zu schreiben, macht Fitness, hat einen großen Freundes- und Bekanntenkreis, kocht gerne gemeinsam und hat häufig Afrika bereist. Seine Schwäche: „Ich habe große Probleme, meinen Fernseher zu verstehen, weil ich gelernt habe, mich mit Dingen zu beschäftigen und nicht intuitiv und kindlich irgendwo draufzudrücken.“ Weltmeister ist er im Monotasking. „Ich kann in völlig überfüllten Zügen konzentriert schreiben, weil ich meine Außenwelt sehr gut ausblenden kann.“ Sensationell findet er die Gastroszene und den Rhein in Düsseldorf, Karneval ist er aber lieber in Köln und trinkt lieber Kölsch als Alt.

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