Der Drachentöter Siegfried liegt aufgebahrt vor dem Wormser Dom und blutet aus seinen Wunden. Nähert sich sein Mörder Hagen von Tronje – mit Thomas Loibl einer der sympathischsten Schauspieler in der Rolle des hinterhältigen Mörders – sprudelt das Blut fontänenmäßig aus ihm heraus. Dabei ist die Rolle Siegfrieds in „Der Diplomat“ keine Hauptrolle, ja, noch nicht einmal eine Nebenrolle. Aufgebahrt über zweieinhalb Stunden liegt eine Puppe mit einem menschlichen Gesichtsabdruck wie ich in der Pause von einer Wormser Stadtpolitikerin erfuhr. Es ist nicht nur der erste künstliche Siegfried, sondern meines Wissens auch der erste dunkelhaarige Siegfried in der Geschichte der Nibelungenfestspiele zu Worms, die 2002 ihren Anfang nahm.

Frank Pätzold und Johann Schell, Foto: David Baltzer

Die Nibelungen und Diplomatie, wie soll das zusammengehen?
Die Autoren Feridun Zaimoglu und Günter Senkel haben mit Dietrich von Bern (gespielt von Franz Pätzold) eine Nebenfigur der Nibelungensage zum Protagonisten gekürt. Das geht nicht ohne stoffliche Anleihen an die Dietrich von Bern-Sage und die wenig bekannte Sage des Gotenkönigs Ermanrich. Dietrich von Bern kämpft um die Rückeroberung seines Reiches, das von dem Gotenkönig Ermanrich und dessen römischem Statthalter Sibich besetzt ist. „Der Diplomat“ beginnt mit der sogenannten Rabenschlacht, in der die Kriegerin Witta (Marta Kizyma) Dietrichs Bruder Dietleib und die beiden Söhne Etzels erschlägt. Doch statt Rache zu nehmen, entschließt sich Dietrich, der beim Hunnenkönig Etzel Zuflucht gefunden hat, zum Rückzug, auch wenn das den Verzicht auf Reich und Krone bedeutet.

Als Gesandter und Brautwerber Etzels kommt er an den Hof der Burgunder, trifft dort aber auf den Statthalter Sibich und die Kriegerin Witta, die den Burgunden ihren Schutz vor den Hunnen anbieten, die gerade die Stadt Worms belagern. Als Schutzgeld fordern die Gesandten des Gotenkönigs Ermanrich Dietrichs Kopf. Gunther (Marcel Heuperman), der König von Burgund, ist einmal mehr ratlos und schwach und seine Gattin Brunhild (Yohanna Schwertfeger) alles andere als eine Stütze. Die einstige eisenharte und männermordende Königin von Isenland ist über die Schmach der unwürdigen Entjungferung durch Siegfried anstelle Gunthers zur Alkoholikerin geworden. Sie gibt sich lieber mit Witta die Kante als Position im Konflikt zu beziehen.

Jasna Fritzi Bauer als Kriemhild, Foto: David Baltzer

Krieg liegt der Luft
Dass die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) es sich nicht nehmen ließ bei der Premiere am Freitagabend auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zu rekurrieren, passt ins politische Narrativ, ist aber nicht im Sinne der Autoren der Nibelungen-Adaption. Feridun Zaimoglu betont, dass Dietrich aus seiner Zeit, aus seiner Gegenwart heraus erzählt wird und ist eher zurückhaltend mit konkreten Zuschreibungen unserer Zeit: „Ich würde Dietrich von Bern also lieber mit Worten aus seiner Zeit und Gegenwart beschreiben: Erlösung, Kein-Blut-vergießen wollen, Verzicht auf Thron und Macht.“ Die Zuschauer ahnen bereits, dass eine blutgetränkte Bühne und das Suhlen in Blut und Matsch kein gutes Ende nehmen können. Diplomatie und Frieden wären schön, können sich aber in der Spirale von Gewalt und Gegengewalt nicht durchsetzen. Als Dietrich sich weigert, mit der Kriegerin Witta zu kämpfen, tritt Giselher an, verliert den Zweikampf und wird als zweiter Held neben Siegfried aufgebahrt. Am Ende entschließt sich Kriemhild dem Werben Etzels nachzugeben. „Wir Burgunder sind das Reich. Burgund bleibt nur bestehen, wenn wir am Leben sind“, verkündet Hagen. Am Ende der Nibelungen-Saga, wenn die Burgunder der Einladung Kriemhilds Jahre später folgen werden, sind alle tot – vielleicht schließen sich Siegfrieds Wunden auch deshalb nicht, weil Blut der Saft der Mächtigen ist. Für diesen beliebten deutschen Sagenstoff lohnt sich die Fahrt nach Worms an den Rhein, wo bis heute immer wieder nach dem sagenhaften Schatz der Nibelungen getaucht wird.

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„Der Diplomat“ des Autorenduos Feridun Zaimoglu und Günter Senkel wird noch bis zum 28. Juli vor der Nordseite des Wormser Doms aufgeführt. Ticketshop

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