Foto (Aufmacherbild): Lidian van Megen

Unbezwingbar, aber unterschätzt

“Schwester der Liebe” wird Freundschaft auch genannt. Mit dem Unterschied, dass sie im Gegensatz zur romantischen Liebe immer erwidert wird.  Unerwiderte Freundschaft gibt es nicht. “Liebe kann oft und sogar dauerhaft einseitig sein”, so der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami, “Freundschaft nie.”

Momente, in denen es uns einfach nur gut geht und wir das Leben genießen, erleben wir nicht nur mit Partnern und Kindern, sondern auch und manchmal sogar vor allem mit Freunden. Studien zeigen, dass Berge buchstäblich niedriger erscheinen, wenn man einen guten Freund an seiner Seite weiß. Dass Blutdruck und Herzschlag sinken. Trotzdem wird Freundschaft als treibende Kraft in unserer Gesellschaft unterschätzt. Der englische Dramatiker George Bernhard Shaw bezeichnete Freunde sogar als Entschuldigung Gottes für Verwandte. Denn Freunde kann man sich aussuchen, die Familie hat man. Freunde sind für einen da, wenn’s drauf ankommt, die Familie nicht unbedingt.

Freunde können sogar der einzige stabile Faktor im Laufe eines Lebens sein. In einer Zeit, in der klassische Lebensformen an Bedeutung verlieren und jede dritte Ehe geschieden wird, sind Freunde vielleicht sogar die neue Familie? “Die Männer gehen, die Freundinnen bleiben”, brachte es Vera, eine der Protagonistinnen in meinem Buch über Freundschaft, auf den Punkt.

Geschrieben habe ich dieses Buch nach dem Tod meiner besten Freundin Jantina. Sie hat soviel durchstehen müssen: den Tod eines Kindes, die Sorge um ein behindertes weiteres Kind, eine Scheidung. Trotzdem verlor sie nie ihren Lebensmut. Ihre positive Lebenseinstellung war mir immer Vorbild, wir haben uns ergänzt und wunderbare Zeiten zusammen erlebt. Das Buch ist eine Würdigung unserer Freundschaft – aber auch der Versuch, dem Wesen der Freundschaft auf den Grund zu gehen: Was macht sie aus? Wie entsteht sie, wodurch wird sie stark?

Dafür habe ich Menschen verschiedener Generationen, Kulturen und Lebensmodelle getroffen und ihre Geschichten mit der von Jantina verwoben: zwei Jugendfreunde, die ihre an ALS erkrankte Freundin in einem Spezialrollstuhl über die Alpen schoben, um ihr einen letzten Wunsch zu erfüllen. Eine Belgierin, die ihrer besten Freundin eine Eizelle spendete, damit diese doch noch Mutter werden konnte. Oder zwei niederländische Blauhelm-Soldatinnen, die während der Balkankriege in die Moslemenklave Srebrenica entsandt wurden und seitdem sisters in arms sind.

Die Kraft, Schwächen und Unterschiede auszuhalten

So unterschiedlich diese Freundschaften auch sein mögen: Sie alle ruhen auf einem Fundament aus geteilten Normen und Werten und der gleichen Weltanschauung. Den gleichen Humor zu haben, über dieselben Dinge lachen zu können, spielt ebenfalls eine große Rolle. Auf dieser Basis kann Freundschaft gedeihen.

Gemeinsame Hobbies oder Interessen hingegen wie Sport oder Lesen braucht es nicht unbedingt. “Dann müsste ich ja Tausende von Freunden haben”, sagte mir Hedy, eine  niederländische Frauenrechtlerin. Sie definierte Freundschaft als Kraft, die Unterschiede und Schwächen des oder der anderen auszuhalten. Auch das wie bei der romantischen Liebe: Wenn wir die Unterschiede nicht mehr aushalten, ist die Beziehung am Ende. Es gibt auch Freundschaft auf den ersten Blick. Oft reicht ein Lachen, eine Geste – und schon springt der Funke über, schon ist da eine große Vertrautheit, und wir wissen: Dieser Mensch tickt wie ich. 

Freundschaft kann auch allmählich entstehen, etwa, wenn man schon als Kinder zusammenwächst. So wie Gerd und Rainer, die sich kennen, seit sie fünf sind, und inzwischen auf die 80 zugehen. “Gerd ist der einzige Mensch, neben dem ich auf dem Beifahrersitz einschlafen kann”, erzählte mir Rainer. Nach seinem zweiten Ja-Wort hat er ihn sogar mit auf seine Hochzeitsreise genommen – die Braut hatte nichts dagegen. Sie wusste: Wenn ich diesen Mann heirate, ist der Freund mit im Paket.

Was alle Freundschaften stark machte, sind gemeinsame Erlebnisse – gemeinsam vergossene Tränen, gemeinsames Lachen. Freunden gelingt es, in scheinbar ausweglosen Situationen doch noch Lösungen zu finden. Sie suchen nach dem Machbaren, nach dem Möglichen im Unmöglichen. So kann Freundschaft so dick werden wie ein Tau, das nicht mehr reißt. Zu einer unbezwingbaren Kraft, der – bis auf den Tod – nichts und niemand etwas anhaben kann.

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Über die Autorin

Kerstin Schweighöfer ist Auslandskorrespondentin und Buchautorin. Sie lebt in Leiden bei Den Haag und berichtet für deutsche Medien über die Niederlande, vor allem für den Deutschlandfunk, die FAZ und das Kunstmagazin ART.

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